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Da ist zuviel Sand drin

Obwohl man in der ganzen EU dieselben Wandfliesen, Käsesorten, Schuhe oder Autos findet, besteht der "gemeinsame Markt" vorwiegend auf Papier. In Wirklichkeit sind eine Menge Auflagen damit verbunden.

Veröffentlicht am 10 August 2010 um 13:55

Die einzige relativ ausgereifte Konstruktion auf Europas Binnenmarkt ist heute der Markt für Verbrauchsgüter. Doch die Aufhebung der Handelsbarrieren bedeutet nicht, dass alles in bester Ordnung ist, denn in Reaktion auf Innovationen und immer neue Trends werden ständig neue Produkte hergestellt. Es läuft auch darauf hinaus, dass in Form von Lizenzvergaben oder länderspezifischen technologischen bzw. verwaltungstechnischen Vorgaben dauernd neue Barrieren auftauchen, die den Herstellern das Leben schwer machen und dem Verbraucher eine größere Auswahl vorenthalten. Um das Potential des gemeinsamen Markts voll ausnutzen zu können, müssen Normung, Logistik, Transportwesen und Schutz des Urheberrechts deutlich verbessert werden. Allein die Tatsache, dass die nationalen Schienennetze der EU unterschiedliche Signalisierungssysteme benutzen, was die Verwendung derselben Schienenfahrzeuge in verschiedenen Ländern erschwert, spricht schon Bände. Auch Frachtpapiere und Patentrecht sind unterschiedlich.

Die Mobilität der Arbeitnehmer bleibt illusorisch. Obwohl jedes Jahr 350.000 Europäer einen EU-Bürger aus einem anderen Mitgliedsstaat heiraten, obwohl jedes Jahr 180.000 Studenten im Rahmen des Erasmus-Programms von Land zu Land ziehen und viele von ihnen länger bleiben und Arbeit suchen, versperren zahlreiche Hürden dieser Gemeinschaft immer noch den Weg. Der gemeinsame Markt wird nicht nur durch die offensichtlichen kulturellen, sprachlichen, wohnungs- und familienbezogenen Barrieren behindert, sondern auch durch alle möglichen legalen Schwierigkeiten.

Mobilität rekordverdächtig niedrig

Für einen Großteil der europäischen Unternehmen ist Immigration von Arbeitnehmern gleichbedeutend mit niedrigeren Löhnen, Arbeitsplatzverlusten für die Mitbürger und somit einer Belastung des Wohlfahrtssystems. Dabei ist Europa bis jetzt ein Gebiet mit einer sehr niedrigen Mobilität der Arbeiter. Nur 2,3 Prozent der Europäer leben in einem anderen Land als im Land ihrer Herkunft. Eine beträchtliche Änderung würde hier die Koordinierung der Versicherungssysteme oder des Arbeitsrechts, die Übertragung der Rentenansprüche sowie die volle Anerkennung beruflicher Befähigungsnachweise aus dem Ausland erfordern.

Krankenversicherung, Inkassoverfahren mit Geschäftspartnern in anderen Mitgliedsstaaten oder auch die albtraumhaften bürokratisch-rechtlichen Spitzfindigkeiten, um sein Auto in einem anderen Staat anzumelden, sind nur die einfachsten Beispiele für die Ärgernisse und Unzulänglichkeiten. Heute muss das Auto am neuen Standort ganz neu angemeldet und die dortige Steuer neu bezahlt werden. Automobilhersteller müssen auch alle möglichen technologischen Vorgaben befolgen. Es ist unklar, warum es innerhalb der EU schwieriger sein sollte, das Bankkonto zu wechseln als den Mobiltelefonanbieter.

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Millionen von Unternehmen nicht vernetzt

Das typische europäische Unternehmen ist eher klein: neun von zehn Firmen beschäftigen weniger als zehn Personen. Zwanzig Millionen dieser Unternehmen bilden innerhalb der EU das Rückgrat der europäischen Wirtschaft. Ihnen würde ein echter gemeinsamer Markt bedeutendes Entwicklungspotential bieten, doch heute ist die EU für diese Unternehmen nicht sehr einladend. Nur acht Prozent von ihnen betreiben überhaupt Handel mit dem Ausland und nur fünf Prozent besitzen ausländische Filialen.

Die technische Revolution ließ Branchen entstehen, die es noch gar nicht gab, als das Konzept eines gemeinsamen Markts entstand, so etwa den E-Commerce oder die Umweltindustrie, doch auch hier mangelt es der EU an sinnvollen Bestimmungen. Europa hat eine Einheitswährung, doch der Markt für den elektronischen Zahlungsverkehr und den elektronischen Rechnungsversand scheidet sich immer noch an den Landesgrenzen.

Gemeinsame Markt muss Furcht nach der Wirtschaftskrise ausräumen

Der gemeinsame Markt kann nicht erfolgreich sein, wenn seine Vorteile von den Millionen EU-Bürgern nicht erkannt werden. Und die wiederum sind frustriert, weil sie die Vorteile als selbstverständlich betrachten und sich nur auf die Mängel konzentrieren. Demzufolge ist Europa einer weiteren Integration heute – und wohl auch in naher Zukunft – weniger zugeneigt als in den jungen Jahren der EU. Die Finanzkrise hat den Glauben an die selbstheilenden Kräfte des Marktes erschüttert. Viele betrachten ihn heute als unethisch, als Auslöser unannehmbarer Ungleichheiten und als ineffizient. Zudem ziehe er riesige Ressourcen im Finanzsektor an, dessen Beitrag zur Wirtschaftsentwicklung zunehmend umstritten ist. Der "gemeinsame Markt" muss also besser auf die durch die Krise intensivierten Befürchtungen und Einwände reagieren.

Die Verfechter der Integration müssen überzeugendere Argumente aufführen. Heute rudern sie gegen den Strom. Die Kooperation zwischen Mitgliedsstaaten und EU-Institutionen ist besonders wichtig, wenn ein "Reformüberdruss" vermieden werden soll. Selbst wenn die Reformen im besten Interesse aller Staaten liegen, hat die Öffentlichkeit den Eindruck, sie seien die Folge der Bemühungen um einen gemeinsamen Markt. Die Globalisierung und der Aufstieg neuer Wirtschaftsmächte wurden zwar nicht durch die europäische Integration hervorgerufen, doch ein stärkerer gemeinsamer Markt wäre die beste Antwort auf die Globalisierung und ein Mittel, Europas wirtschaftliche Interessen zu verteidigen. Das wäre viel effizienter als Desintegration oder als eine Fokussierung auf rein nationale Instrumente.

Und Wohlfahrtspolitik für die Verlierer

Es ist nicht zu leugnen, dass mit dem gemeinsamen Markt – zumindest vorübergehend – Gewinner und Verlierer aufkommen und dass die Mitgliedsstaaten verschiedene Wege ausprobieren, um letztere durch Wohlfahrtspolitik zu unterstützen. Doch die Umverteilung des Einkommens wird die Spannungen zwischen der Marktintegration und den sozialen Zielen nicht ausschalten. Angesichts der ausnehmend unterschiedlichen Ansatzweisen der verschiedenen Mitgliedsstaaten und der Macht der integrationsskeptischen Interessengruppen, sind Kompromisse nötig. Mario Monti, Autor des von José Manuel Barroso in Auftrag gegebenen Berichts Eine neue Strategie für den Binnenmarkt, scheint zu glauben, dass die neuen Mitgliedsstaaten bei der Suche und Ausarbeitung dieser Kompromisse eine Sonderrolle spielen könnten. Sie haben im Fall einer mehr oder weniger reibungslos voranschreitenden Integration mehr zu gewinnen – und im Fall einer Verlangsamung oder eines Rückgangs mehr zu verlieren.

Barroso hat den Bericht in Auftrag gegeben, Monti hat ihn geschrieben, und zwar mitsamt spezifischen Empfehlungen dahingehend, was am europäischen Mechanismus zu ändern ist und wie. Welche dieser Empfehlungen zu Gesetzen werden, und wie schnell, ist eine ganz andere Frage. Das Ausmaß der potentiellen Vorteile eines gemeinsamen Markts ist riesig, doch das will kaum etwas heißen. (pl-m)

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