Ideen Friedensnobelpreis

Hier liegt eine Verwechslung vor

Sicherlich verdient die europäische Idee Anerkennung. Aber die Union von heute, welche Waffen verkauft und Arbeitslose schafft, hätte nicht vom Nobelpreiskomitee ausgezeichnet werden sollen, meint ein algerisch-tunesischer Journalist.

Veröffentlicht am 10 Dezember 2012 um 08:12

In Algerien ist einer der am häufigsten wiederkehrenden Gedanken die postkoloniale Vergangenheit mancher EU-Länder, an erster Stelle Frankreichs und Großbritanniens. Man fragt sich, ob die Entscheidung der Osloer Jury nicht offiziell das postkoloniale Purgatorium des Alten Kontinents beendet.

Zu einem Zeitpunkt, an dem Frankreich sich weiterhin weigert, sich mit seiner algerischen Vergangenheit auseinanderzusetzen und wo Großbritanniens Justiz endlich das sensible Dossier des Mau-Mau-Kriegs in Kenia öffnet, erscheint dieser Nobelpreis wie ein Persilschein, ausgestellt vom „tugendhaften und weisen“ Europa, sprich Nordeuropa, das kaum ins koloniale Abenteuer verwickelt war.

Man darf auch die Frage stellen, ab wann man für so einen Preis in Frage kommt, und für wie lange.

Es stimmt, dass Europa schon seit langem nicht mehr durch Waffen zerstört wird. Doch ist der Balkan-Konflikt schon vergessen, wo die EU unfähig war, den Frieden wieder herzustellen? In vielerlei Hinsicht würden die USA, die mit all ihrem Gewicht die Region befriedet und das serbische Regime von Milosevic gezähmt haben, zumindest einen Teil des Preises verdienen.

Das Beste vom europäischen Journalismus jeden Donnerstag in Ihrem Posteingang!

Verdiente Gründungsväter

Diese sind nur ein paar Punkte, die das Bild der idyllischen Ruhe in einer immer unruhigeren und globalisierten Welt, das Europa so gerne von sich gibt, relativieren.

Ehrfürchtig zitiert man das Kunststück, welches die Europäer mit dem Wiederaufbau und der Einigung vollbracht haben, trotz Jahrhunderte der Kriege. Es muss anerkannt werden, dass die Europäische Union ein Erfolg ist, wenn man sich als Ausgangslage den Zustand Europas 1945 vor Augen führt.

In diesem Sinne hätten dann aber die Gründungsväter den Nobelpreis verdient: der Deutsche Konrad Adenauer, der Luxemburger Joseph Bech, der Niederländer Johan Willem Beyen, der Italiener Alcide De Gasperi, die Franzosen Jean Monnet und Robert Schuman, sowie der Belgier Paul-Henri Spaak.

Man könnte auch begreifen, dass die Auszeichnung jenen verliehen wird, die deren Werk fortsetzten: beispielsweise dem ersten EU-Kommissionspräsidenten, dem Deutschen Walter Hallstein, oder dem Italiener Altiero Spinelli, dem Vordenker des „Vertrags zur Europäischen Union“, oder auch den Franzosen Jacques Delors, EU-Kommissionspräsident von 1985 bis 1995.

Die Auszeichnung würde auch Sinn machen, hätte man sie gemeinsam Helmut Kohl, Helmut Schmidt und Valéry Giscard D’Estaing als Motor des deutsch-französischen Zugpferds verliehen, denn wir alle wissen: was Frankreich und Deutschland näher bringt, macht Europa stärker.

Demgegenüber sind die aktuellen Regierenden nicht auf der Höhe des ursprünglichen Projekts. Sie sind unfähig, über ihre Landesgrenzen hinaus zu denken, und Europa mutiert nach und nach in ein Gebiet der bürokratischen Schikanen, von dem nun wirklich niemand träumt.

Wirtschafts- statt Militärkrieg

Im Gegenteil: Die europäische Frage zeigt immer mehr die Grenzen der Offenheit sowie der Mutation der Nationalstaaten in ein Ensemble ohne Barrieren auf. Man gewinnt ein wenig den Eindruck, dass dieser Preis als eine letzte Chance für Europa gedacht ist, um die Europäer aufzurütteln: damit sie nicht das Erasmus-Programm beenden (eines der wenigen konkreten Beispiele der friedlichen Entwicklung innerhalb Europas) und am Ende sich für eine wirkliche Union starkmachen.

Aber es gibt noch Wichtigeres. Darf man den Friedensnobelpreis einer Institution verleihen, von der einige Mitglieder (Frankreich, Deutschland, Italien und Großbritannien) zu den größten Waffenlieferanten der Welt gehören? Frieden innerhalb Europas, aber Waffen nach außerhalb verkaufen... und manchmal auch in Europa selbst, wie die Waffenlieferungen Deutschlands nach Griechenland zeigen, das, wie immer die Umstände auch sein mögen, von einer türkischen Bedrohung wie besessen ist...

Reden wir nun über den innereuropäischen Frieden. Es stimmt: die Waffen schweigen, doch ein andere Art Konflikt spaltet und bedroht die Europäische Union. Es ist der wirtschaftliche Krieg, den sich die Mitgliedsstaaten gerade liefern. Beispiel Deutschland: Ein Land, dessen Handelsbilanzüberschuss stetig wächst, aber auf Kosten seiner europäischen Partner, und dies oftmals auf Märkten, die in Europa selbst sind. Und was soll man von Ländern halten, die ihre Steuern senken, damit andere Länder ihre Industrien dorthin auslagern?

„Bestätigung noch erforderlich“

Die Toten der schrecklichen Napoleonischen und Weltkriege gehören der Vergangenheit an. Doch heute sind andere in der Spirale des Unglücks: die Arbeitslosen. Verdient man einen Friedensnobelpreis, wenn man bei sich zu Hause eine derartige soziale Gewalt zulässt? Die Frage gehört gestellt, und irgendwann wird man die liberale Option, welche Brüssel nach und nach durchsetzt, quantifizieren müssen.

Am Ende dieses langen Plädoyers gegen die Verleihung des Preises an die EU bleibt dennoch ein positiver Punkt festzuhalten. Europa hat die Todesstrafe abgeschafft und versucht seine Partner von der Wichtigkeit dieses Ansatzes zu überzeugen. Das ist ein großes Verdienst und gibt jenen gute Argumente, welche den Preis als einen Anreiz zur Beispielhaftigkeit sehen.

Heute ist Europa, trotz aller Mängel, die Region der Welt, welche das „Recht auf Recht“, mit anderen Worten die Grundvoraussetzung für die Demokratie, verteidigt wie keine andere. Aber da dieses „Recht auf Recht“ von den Europäern derzeit selber in Gefahr gebracht wird (Recht auf Arbeit, Gesundheit für alle, usw.), hätte diese Auszeichnung nur unter dem Vorbehalt „Bestätigung noch erforderlich“ verliehen werden dürfen.

Tags
Interessiert an diesem Artikel? Wir sind sehr erfreut! Es ist frei zugänglich, weil wir glauben, dass das Recht auf freie und unabhängige Information für die Demokratie unentbehrlich ist. Allerdings gibt es für dieses Recht keine Garantie für die Ewigkeit. Und Unabhängigkeit hat ihren Preis. Wir brauchen Ihre Unterstützung, um weiterhin unabhängige und mehrsprachige Nachrichten für alle Europäer veröffentlichen zu können. Entdecken Sie unsere drei Abonnementangebote und ihre exklusiven Vorteile und werden Sie noch heute Mitglied unserer Gemeinschaft!

Sie sind ein Medienunternehmen, eine firma oder eine Organisation ... Endecken Sie unsere maßgeschneiderten Redaktions- und Übersetzungsdienste.

Unterstützen Sie den unabhängigen europäischen Journalismus

Die europäische Demokratie braucht unabhängige Medien. Voxeurop braucht Sie. Treten Sie unserer Gemeinschaft bei!

Zum gleichen Thema