So viele Landsleute gab's doch früher nicht! Rumänischer Zöllner in Sculeni, an der Grenze zur Republik Moldau.

Der heimliche Schritt nach Osten

Moldauer, Mazedonier, Serben, Ukrainer oder Türken – dank der Visa-Politik einiger Grenzstaaten der Union, können sie bereits heute einen EU-Pass bekommen. Und das ist erst der Anfang.

Veröffentlicht am 16 August 2010 um 13:42
So viele Landsleute gab's doch früher nicht! Rumänischer Zöllner in Sculeni, an der Grenze zur Republik Moldau.

Der Migrationsdruck steigt und die Öffentlichkeit wird mehr und mehr von einem Invasionssyndrom heimgesucht. Kein Zweifel, die EU hätte gerne auf die neuen Initiativen von drei ihrer neuen Mitglieder verzichtet. Ungarn, Rumänien und Bulgarien, die von Brüssel mit der Sicherung der Ostgrenzen der EU beauftragt wurden, haben in gewissem Maße ihre Mission unterhöhlt, indem sie die Pforten der Festung Europa durchlässig gemacht haben. Fünf Millionen Moldauer, Serben, Ukrainer und Türken haben demnächst die Möglichkeit, einen gültigen EU-Pass zu bekommen. Man stützt sich auf die Historie, um diese Kehrtwende zu rechtfertigen. Ein unerwartetes Geschenk, vom dem sich die Regierungen Ungarns, Rumäniens oder Bulgariens insgeheim politische Dividenden versprechen, selbst wenn in den Hauptstädten des alten Europas mit den Zähnen geknirscht wird.

Der vom ungarischen Parlament am 26. Mai auf Antrag der rechtskonservativen Regierung unter Viktor Orban mit Zustimmung der rechtsextremen Jobbik-Partei verabschiedete Gesetzestext klingt wie eine Revanche. Oder eine Provokation. Ungarn hat sich nie vom Trauma des Vertrags von Trianon erholt. Das am 4. Juni 1920 unterzeichnete Abkommen amputierte das Land um drei Viertel seines Territoriums und die Hälfte seiner Bevölkerung.

Blutsverwandtschaften verpflichten

Das Gesetz zur doppelten Staatsbürgerschaft betrifft 3,5 Millionen Menschen und wird im kommenden Januar in Kraft treten. Ein Eldorado für die rund 300.000 Serben ungarischer Abstammung der autonomen serbischen Provinz Vojvodina oder für die 150.000 ungarischstämmigen Ukrainer. Das Gesetz provoziert auch Ärger mit zwei anderen EU-Mitgliedsstaaten: 1,4 Millionen Magyaren leben in Rumänien, und in der Slowakei 520.000 Menschen mit ungarischen Wurzeln (zehn Prozent der Bevölkerung). Die slowakischen Behörden haben diesen Vorstoß gar nicht geschätzt. Im Gegenzug verabschiedete das Parlament in Bratislava ein Gesetz, das vorsieht, jedem, der die ungarische Staatsbürgerschaft annimmt die slowakische zu entziehen.

Die rumänischen Behörden geben sich zurückhaltend und vermeiden es, den Streit noch mehr zu schüren. Zuerst einmal, da in Siebenbürgen die ungarische Minderheit gelegentlich lautstark von einer Autonomie für "das Land der Szekler" träumt. Und dann, weil Bukarest kleinlich wäre, Ungarn für etwas zu kritisieren, was es selber macht. Im April 2009 hat Traian Basecu nämlich beschlossen, den Moldauern, die ihre rumänische Abstammung nachweisen können, einen rumänischen Pass zu gewähren. "Unsere Blutsverwandtschaften verpflichten uns zu helfen", ließ der rumänische Präsident wissen.

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Demontage einer bereits geschwächten Identität

Moldaus Geschichte ist kompliziert. Das Land entstand unter Stalin aus der Zusammenlegung eines Gebiets der Ex-Sowjetunion mit Bessarabien, das zwischen 1918 und 1940 und dann noch zwischen 1941 und 1944 eine rumänische Provinz war. Zwei Drittel der Moldauer sprechen Rumänisch und ein Drittel Russisch. Moldau — eine Bevölkerung von vier Millionen Menschen — ist ein kleines und bettelarmes Land. Ein Drittel der aktiven Bevölkerung hat das Land verlassen, um Arbeit zu finden, meistens illegal.

Das Tor zu EU könnte zudem als perversen Nebeneffekt haben, dass ein ohnehin geschwächtes, von einer Identitätskrise gebeuteltes Land definitiv demontiert wird. Rund 120.000 Moldauer besitzen derzeit einen rumänischen Pass, 800.000 weitere haben einen beantragt. Bukarest hat gerade — auf Kosten der EU —in den Städten Balti und Cahul zwei neue Konsulate eröffnet.

Auslandsbulgaren in der Türkei

Nach dem Vorbild Ungarns hat auch Bulgarien das Verfahren zum Erwerb der bulgarischen Staatsbürgerschaft für die rund 2,5 Millionen Auslandsbulgaren erleichtert. Man findet sie verstreut in der Ukraine, in Maoldau, Albanien, Griechenland und vor allem in Mazedonien und in der Türkei. Rund 1,4 Millionen Mazedonier (drei Viertel der Bevölkerung) könnten auf diesem Weg in den Besitz eines EU-Passes kommen. Für zahlreiche Historiker ist Mazedonien eh eine bulgarische Provinz.

Die mazedonische Sprache sei auch nichts weiter als ein bulgarischer Dialekt. Sofia reicht auch den Pomaken die Hände, Bulgaren, die sich unter der Herrschaft des osmanischen Reichs zum Islam bekehrten. Diese heute auf 900.000 Menschen geschätzte Minderheit wurde im kommunistischen Regime bis Ende der Achtziger Jahre verfolgt. Circa 350.000 Menschen flohen in die Türkei. Für sie ist es heute nicht mehr nötig, einen eventuellen EU-Beitritt der Türkei abzuwarten, um in den Besitz eines EU-Passes zu kommen. (js)

Lateinamerika

Spanier werden im Hauruck-Verfahren

Spanier werden leicht gemacht, erklärt Le Figaro: rund 120.000 Menschen wurden 2010 von Spanien eingebürgert. 95 Prozent der Menschen stammen aus Lateinamerika, vor allem aus Kuba und Argentinien. Eine Situation, die sich aus dem Ende 2007 verabschiedeten "Gesetz des historischen Andenkens" (Ley de la Memoria Històrica) erklärt. Es erlaubt den Nachfahren der Flüchtlinge des Bürgerkriegs und der Diktatur Frankos die spanische Staatsbürgerschaft zu beantragen. Vom Erfolg des Gesetzes überrollt, hat die Regierung beschlossen, die Laufzeit des Gesetzes um ein Jahr, bis Dezember 2011, zu verlängern, um dem Ansturm auf die spanischen Konsulate gerecht zu werden. Bis dahin könnte die Anzahl der Neu-Spanier 500.000 erreichen.

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