Im europäischen Märchen-Zentrum Pacanow, 200 km südlich von Warschau

Kinder waren gestern

Die polnischen Frauen machen Hochschulabschlüsse und verschieben das Kinderkriegen auf später... manchmal bis es zu spät ist. Polen ist auf dem besten Wege zum Land mit der niedrigsten Geburtenrate der Welt zu werden, schreibt eine polnische Kolumnistin.

Veröffentlicht am 17 Dezember 2012 um 11:40
Im europäischen Märchen-Zentrum Pacanow, 200 km südlich von Warschau

Sollte sich der Trend fortsetzen, so schätzen Demographen, dann werden nur zwei von drei polnischen Mädchen später einmal Mutter. Sicher ist jetzt schon, dass von den Frauen, die zwischen 1970 und 1980 geboren wurden, jede fünfte kinderlos bleiben wird. In der Generation der Sechzigerjahre war es nur jede achte. Dies wäre eine der niedrigsten Geburtenraten der Welt. In Japan, den USA oder Großbritannien bleibt jede vierte Frau ohne Nachwuchs.

Nach Angaben der Forscher liegt der Hauptgrund für die rückläufige Geburtenrate in der verlängerten Ausbildungs- und Studienzeit. Polen kennt derzeit einen regelrechten Hochschulboom: Die Generation der Achtziger- und Neunzigerjahre absolviert weitgehend einen Hochschulabschluss. Von den 2,5 Millionen jungen Menschen zwischen 18 und 22 Jahre drücken derzeit 1,9 Millionen die Hochschulbänke. Unser Arbeitsmarkt mit Wegwerf-Jobs und einem hohen Arbeitslosigkeitsrisiko schafft auch kein günstiges Umfeld. Das Alter für das erste Kind steigt konstant und hat sich in den vergangenen Jahren um zwei Jahre erhöht. Die Anzahl der Frauen, die ihr erstes Kind mit über dreißig bekommen hat sich verdoppelt.

Künstliche Befruchtung nur für Reiche

Die genetische Evolution hält mit dem gesellschaftlichen Wandel nicht Schritt. Unsere Körper sind nicht dafür gemacht, um erst mit über dreißig zum ersten Mal Mutter zu werden. Ärzte schätzen, dass in Polen jedes fünfte Paar Schwierigkeiten bei der Fortpflanzung bekommen wird. Die Medizin kann zwar helfen, doch das zuverlässigste Mittel gegen Unfruchtbarkeit — die in-vitro-Fertilisation — war bislang nur den Reichsten zugänglich. Erst jüngst hat die Regierung mit einem Dekret den Weg für eine öffentliche Finanzierung der künstlichen Befruchtung freigemacht. 30.000 Paar sind betroffen. Aber ohne ein Gesetz über Bioethik und andererseits mit einer Kirche, welche die assistierte Reproduktion ablehnt, läuft alles darauf hinaus, dass viele sterile Paare leer ausgehen werden.

Viele Hochschulabsolventinnen finden nicht den richtigen Partner fürs Leben. Laut einer Studie des Famwell-Programms des Demographischen Instituts in Warschau hat fast die Hälfte aller kinderlosen Frauen der 60er-Jahre-Generation schlicht keine Beziehungen, die fest genug waren, um eine Familie zu gründen. Teilsweise, weil eine Frau mit Hochschulabschluss keinen Mann ohne selbigen nimmt. Die Statistiken zeigen, dass es eine derartige Konfiguration in Polen praktisch nicht gibt. Doch geht es nicht nur um Diplome.

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Es gibt noch ein anderes Problem, das sich vor allem auf dem Land bemerkbar macht, wo die alleinstehenden Männer irgendwie zwischen Vergangenheit und Gegenwart stehengeblieben sind. Wie in guten alten Zeiten meinen sie, dass sie nicht im Haushalt anpacken müssen, aber gleichzeitig wollen sie die traditionelle Aufgabe des Mannes — die Rolle des Familienoberhaupts, welches den Lebensunterhalt sichert — nicht mehr übernehmen. Die jungen Polinnen, gut ausgebildet, immer unabhängiger und mobiler (die letzte Auswanderungswelle betraf vor allem Frauen) wollen sich diese Last nicht aufhalsen. Allerdings hätten viele gegen das traditionelle Muster nichts einzuwenden: Sie zu Hause, Er auf der Arbeit mit einem ordentlichen Monatsgehalt. Doch gutbezahlte Jobs gibt es kaum mehr, und somit schließt sich der Kreis.

Töchter der „Matka Polka“

Die alleinstehenden Frauen aus den Städten klagen, dass zu viele Männer sich der Verantwortung entziehen wollen und keine feste Beziehung suchen, und man schaffe es einfach nicht, dauerhaft zusammen zu bleiben. Heute, wo man sich dank Internet so einfach von einem Abenteuer ins nächste stürzen kann, warum soll man sich da auch mit nur einer Beziehung begnügen?

Demographen beziffern die Anzahl der alleinstehenden Polen zwischen 25 und 45 Jahren auf 7 Millionen. Nach Angaben eines OECD-Berichts leben noch sage und schreibe 40 Prozent der jungen Leute zwischen 25 und 35 bei ihren Eltern und haben im besten Fall eine lockere Beziehung mit jemandem.

Ein weiterer Grund, warum die polnischen Frauen zögern, eine Familie zu gründen, liegt in der Tatsache, dass sie Töchter der „polnischen Mütter“ sind („Matka Polka“: ein Ausdruck, der eine aufopferungsbereite Frau und Mutter bezeichnet). Die jungen Frauen haben zusehen müssen, wie ihre Mütter sich zwischen Job und Haushalt quasi zu Tode schufteten. Für die Generation von Frauen, welche in den Fünfziger Jahren zur Welt kam, hieß Ehe automatisch weniger Wohlbefinden und einer Verschlechterung des eigenen Selbstbewusstseins. Die jungen Frauen von heute wollen sich nicht in derselben Lage wiederfinden.

Mutterinstinkt

Anthropologen betonen, dass der Platz des Kindes in den Plänen, Bedürfnissen und Zielen der Menschen sich grundlegend geändert hat. Andererseits sagen Psychotherapeuten, dass eine ungewollte Kinderlosigkeit eine der schlimmsten Erfahrungen überhaupt sei, auf gleicher Höhe wie die Trauer um einen Toten. Doch auch da sind nicht alle gleich. Die moderne Wissenschaft meint, dass es keinen elterlichen Instinkt gäbe. Und manche Frauen, selbst mit Kind, hätten keinen Mutterinstinkt. Die Nicht-Fortpflanzung sei also Teil der zivilisatorischen Entwicklung wie die Verlängerung der Lebenszeit.

Doch kann der Kinderwunsch manchmal überwältigend sein. Unabhängig von unseren Wertesystemen sehen viele Menschen im Kind eine wesentliche Erfahrung, den Ausdruck ihrer Liebe, die Quelle, welche dem Leben einen Sinn verleiht. Und letztlich der einzige Verbündete für das Bevölkerungswachstum. (js)

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