Steht Europa Kopf?

Die Europäische Union wurde ins Leben gerufen, um den gemeinsamen Werten der Europäer eine politische Form zu geben. Die Mitgliedstaaten trugen dazu bei, Macht und Kompetenzen anzuhäufen. Der irische Schriftsteller Colm Tóibín bemängelt, dass dies leider auf Kosten der Völker ging, deren Interessen sie eigentlich bewahren sollte.

Veröffentlicht am 18 Dezember 2012 um 16:33

Die Europäische Union erscheint wie ein seltsamer Traum, den wir geträumt haben. Sie war ein Weg, eine Reihe politischer Werte aufzustellen und zu gestalten und in ein komplexes System zu bringen, das menschliche Werte, eine reiche Kultur und die Idee von Gleichberechtigung ins Zentrum unserer Anliegen rückte. Wie sich herausstellt, kann die Europäische Union als System allem anderen standhalten außer einer Krise.

Nun ist sich jedes Land unter dem Druck einer Finanzkrise nur einer Sache sicher – dass seine eigenen Grenzen und Interessen wichtiger sind als das Gemeinwohl. Auch wenn die alten Währungen zum großen Teil abgeschafft wurden, bleiben die alten Denkweisen doch bestehen . Sobald wir unter Druck stehen entwickelt sich unsere Loyalität in Richtung Nationalstaat, auch wenn unsere Banken neuerdings weltweit funktionieren. Geld fließt jetzt auf gleiche Weise wie Luft, völlig frei, vom Wind in verschiedene Richtungen getrieben, unkontrolliert, unbeständig, ungewiss.

Die Ideen sind dabei auf der Strecke geblieben. Und mit den Ideen die Identitäten. Jetzt wissen wir genau, wer deutsch und wer griechisch ist; wir wissen, dass wir Iren sind und ihr Schweden.
Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, was der Traum bedeutete . Am Rande Europas, an dem ich lebe, ist es jetzt wichtig, wieder die Sprache des politischen und kulturellen Idealismus zu sprechen. Man muss die von unseren Politikern abgegriffene Sprache daraufhin untersuchen, ob gewisse (oder ungewisse) Worte oder Konzepte etwas bedeuten könnten, sei es auch nur aus dem Grund uns Trost zuzusprechen, so wie es bei der Poesie der Fall ist. Gewichtige und verantwortlich genutzte Sprache in Zeiten persönlicher Mühsal.

Spott und Selbstironie gehören zu Europa

Ein Aspekt unseres europäischen Erbes ist eine gewisse Art von Humor . In unserem täglichen Leben, unseren Volksmärchen und unserer Literatur gehören Spott und Selbstironie zum Mark der europäischen Sensibilität. Wir dürfen über den Kaiser lachen, wenn er in all seinem Pomp vorbeizieht. Er trägt keine Kleider. Wir haben uns unser ganzes Leben lang über die Machthabenden lustig gemacht.

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Der General weiß, dass der Unteroffizier allen Respekt vor dessen Orden und seiner Uniform verliert, sobald er zu Hause ist oder ein paar Gläschen getrunken hat. Bei Shakespeare reden der Narr und der Totengräber mit mehr Verstand als der König und der Prinz. Bei Cervantes ist Don Quixote nur deshalb ein Held, weil er ein so offensichtlicher Dummkopf ist. Und wenn uns in Europa danach ist, dann lachen wir über Gott und denken, was der nur für ein Narr sei. Das unterscheidet uns von Amerikanern, Chinesen und dem Mittleren Osten.

In Europa haben wir einen uns allen gemeinsamen Begriff von humanistischer Bildung, der aus der Freiheit stammt, schreiben und lesen zu können, was immer wir wollen und uns neue Gedanken und neue Bilder zu erschaffen. Zu einer gewissen Zeit schien die Europäische Union dies zu verkörpern und einen verweltlichenden Einfluss auf Europa zu haben, der humanistisches Gedankengut, Toleranz, Chancengleichheit und Fortschrittsmöglichkeiten ins Zentrum rückte.
Europa bedeutete Fortschritt; vor allem in Ländern wie Griechenland, Portugal, Spanien und Irland, die schlechte Straßen und eine rückständige Politik hatten.

Es bedeutete Frieden in Ländern, die den Krieg erlebt hatten. Wir verbesserten die europäische Infrastruktur und langsam wandelte sich auch unsere politische Kultur. Doch dann kam die Zeit, als Europa Geld und Macht bedeutete. Wir stellten zum Beispiel fest, dass irische Politiker, Beamte und Richter, die in Europa arbeiten gingen, sehr hohe Gehälter bezogen.

Ein sonderbarer Feind namens Volk

Hinzu kam auch die von Machtliebenden geschätzte Verschwiegenheit. Die Europäische Union stützte sich eher auf ein diplomatisches als, sagen wir, ein parlamentarisches System. So kam es, dass Dinge, die hinter verschlossenen Türen beschlossen wurden und in geheimen Mitteilungen erschienen, mehr Einfluss auf unser Leben nahmen als das, was in unseren eigenen Parlamenten geschah. Wenn die Mitglieder des Ministerrates zusammentraten, taten sie nichtssagende Äußerungen und posierten für Fotos. Niemand wusste, was wirklich entschieden wurde und wie. Das Europäische Parlament bleibt ein großes und teures Alibi für Transparenz.

Die Europäische Union schien bereit, sich immer mehr Macht einzuverleiben. Sie zeigte zudem wenig Interesse daran, sich zu reformieren oder ihre eigenen Abläufe zu hinterfragen. Dadurch, dass sie die Methoden der Diplomatie anwendete, schaffte sie einen sonderbaren Feind namens Volk . So entstanden zwei Machtblöcke – die europäischen Bürger, die immer weniger Macht hatten, und die europäischen Herrschenden, die jedes Jahr mehr Macht bekamen. Die Herrschenden hielten das Volk häufig zum Narren; die Herrschenden schienen zu wissen, was für das Volk am Besten war.

Einige ihrer Veränderungen waren dennoch großartig. Wir konnten in Europa Grenzen überschreiten, ohne unsere Pässe stempeln zu lassen. An Autobahngrenzübergängen gab es sogar überhaupt keine Kontrollen mehr. Wir konnten die meisten Waren zollfrei transportieren. Wir konnten innerhalb Europas leben und arbeiten, wo wir wollten. Ich sah zu gerne, wie Westeuropa nach 1989 die Länder aus dem Osten mit offenen Armen aufnahm.

Ich war von der Idee angetan, dass Europa ein Kontinent mehr von Städten als von Staaten werden würde. Denn unsere Städte und die Ideen und Bilder, die sich in ihnen verbreiteten, waren unsere große europäische Schöpfung. Ich war begeistert von der Idee, dass das Konzept der nationalen Identität und des Nationalismus als Traum des 19. Jahrhunderts und Albtraum des 20. Jahrhunderts jetzt ein Ende finden würde.

Was bleibt ist Erinnerung, Kultur und Hoffnung

Ich mochte sogar den Euro, als er eingeführt wurde und war stolz darauf, dass Irland von Anfang an dabei war. Ich mochte die neuen Erlasse Europas zum Umweltschutz; ich mochte die Liberalisierung der Luftfahrt. Ich glaubte sogar daran, dass eine Zeit kommen würde, in der Europa in der Welt etwas gelte, wenn unsere Auffassung von Menschenrechten stark wie der Euro dastehen würde und in China oder im Mittleren Osten etwas bewegen könnte.

Während der Jahre des Booms hatten wir in Irland Vollbeschäftigung. Wir mussten nicht auswandern wie sonst. Wir arbeiteten hart. Bei einem Abschwung hätten wir normalerweise unsere Währung abwerten oder Inflation zulassen müssen. Das können wir jetzt nicht. So wie der Euro Deutschland und anderen reichen Ländern wohl tut, deren Exporte durch ihn wettbewerbsfähig werden, bekommt er uns nicht. Aber wir stecken in ihm fest.

Derweil sprechen Deutschland und andere reiche europäische Länder im Namen aller Weisheit in Europa und, schlimmer noch, in Namen aller Autorität. Unter Druck scheitert die Idee einer Europäischen Union. Jetzt gibt es nur noch auf ihre eigenen Interessen bedachte Nationalstaaten. Wir sind aus dem großen Traum erwacht. Es ist in Europa Tag geworden. Zu unserem Trost haben wir nur unsere Fähigkeit, über unsere eigene Dummheit und die ihre zu lachen; alles, was wir haben, ist die Erinnerung an das, was einst möglich war. Und natürlich die Malereien, Bücher, Lieder und Symphonien, die großen Galerien und Museen und Bibliotheken und öffentlichen Gebäude, die unsere Kultur ausmachen.

Wir können nachts allein durch die Straßen von Lissabon und Riga, Athen und Dublin, Rom und Stockholm wandern, und wissen, dass der Impuls zu Sozialgemeinschaft und politischem Idealismus wieder zurückkommen kann. Vielleicht sogar stärker, jetzt wo wir wissen, wie anfällig er ist. Allerdings nicht sofort. (s-d)

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