Jobangebote im Arbeitsmarkt- und Karriere-Zentrum in Hannover, April 2012

Keine „verlorene Generation”

Bei jeder ernsthaften Krise bedauern wir das Schicksal der jungen arbeitslosen Menschen, die wir „verlorene Generation” nennen. Aber solche Generationen gab es im Laufe der Zeit immer wieder. Und sie haben stets einen Ausweg gefunden, schreibt ein Kolumnist der DGP.

Veröffentlicht am 21 Januar 2013 um 12:51
Jobangebote im Arbeitsmarkt- und Karriere-Zentrum in Hannover, April 2012

Sie sollten eigentlich unsere Hoffnung sein, sind aber zur Last geworden. Mehr als 400.000 junge Polen sind ohne Arbeit. Nur wenige sprechen nicht von der „verlorenen Generation”. Unter dieser Krankheit leidet der gesamte europäische Kontinent, besonders aber der Süden. Glaubt man den im Oktober vergangenen Jahres veröffentlichen Daten von Eurostat, ist die
Arbeitslosigkeit der unter 25-Jährigen in Polen auf 27,8 Prozent, in Spanien dagegen auf 55,9 Prozent und in Italien auf 36,5 Prozent gestiegen. Selbst in einem reichen Land wie Frankreich ist jeder vierte Jugendliche arbeitslos.

Verzerrte Statistiken

Die Statistiken beeindrucken, sorgen aber auch für Verwirrung. Sie erheben lediglich die Zahl der Beschäftigten und Arbeitslosen. Studenten, Auszubildende, Reisende oder Arbeitsunwillige werden nicht mit einbezogen. Unter diesem Gesichtspunkt scheint das von der Internationalen Arbeitsorganisation IOL entwickelte Konzept der NEET’s das Phänomen der Jugendarbeitslosigkeit deutlich besser zu erfassen.

Betrachtet man die jungen Menschen, die weder Arbeit noch einen Studien- oder Ausbildungsplatz haben (No Employment, Education, Training - NEET), liegt die Quote der Polen zwischen 15 und 29 Jahren bei nur noch 15,5 Prozent. Natürlich ist das immer noch zu viel (22 Prozent mehr als vor der Krise), aber nur noch einer von sechs Jugendlichen ist damit tatsächlich „ohne Perspektiven”. Wie kann man von einer verlorenen Generation sprechen, wenn fünf von sechs Jugendlichen ihren Weg gehen. Das ist im restlichen Europa nicht anders. In Griechenland liegt die NEET-Quote bei 23 Prozent, in Spanien bei 21 Prozent. In Ländern wie Österreich und den Niederlanden sind es nur 5 bis 8 Prozent.

Ohne Arbeit, aber nicht ohne Zukunft

Es mag merkwürdig klingen, aber die Tatsache, dass ein großer Teil der Arbeitslosen junge Menschen sind, gibt Anlass zur Hoffnung. Das spanische Beispiel spricht da für sich. Grund für den sprungartigen Anstieg der Arbeitslosigkeit ist nicht die Rezession, sondern die Arbeitsmarktreform von Ministerpräsident Mariano Rajoy. „Durch die neue Gesetzgebung können Arbeitgeber ihre Beschäftigten viel leichter entlassen. Bei einer besseren Konjunktur werden sie aber nicht zögern, wieder einzustellen”, glaubt Jorge Nunez vom Zentrum für Europäische Politikstudien CEPS in Brüssel. Zuvor mussten die spanischen Unternehmen mit den Branchengewerkschaften, und nicht innerhalb der einzelnen Betriebe, jede Veränderung in den Arbeitverträgen verhandeln.
Trotz der strikten Regelungen aus der Franco-Ära sind die spanischen Unternehmen mit jeder Konjunkturverbesserung systematisch das Risiko eingegangen, neues Personal einzustellen. Nach dem EU-Beintritt 1986 sank die Jugendarbeitslosigkeit innerhalb von drei Jahren um die Hälfte auf 18 Prozent. Werden die jungen Spanier auch dieses Mal ihren Kopf so schnell aus der Schlinge ziehen können?

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Für Zsolt Darvas vom Institut Bruegel in Brüssel „ist eines sicher: die heutige Generation ist so gut ausgebildet wie keine zuvor. Dank der Reformen von Rajoy hat die spanische Wirtschaft schnell an Wettbewerbsfähigkeit gewonnen. Noch vor 5 Jahren wies die Außenhandelsbilanz des Landes ein Defizit von 11 Prozent des BIP auf. Heute erreicht der Handelsüberschuss im Durchschnitt etwa 2 Prozent des BIP”.

Ein heilsamer Schock

Polen befindet sich in einer ähnlichen Lage. In unserem Land gab es schon zwei „verlorene Generationen” zwischen 1992/1993 und 2002/2003. Selbst wenn man sich auf die pessimistischen Statistiken des GUS (Zentralbüro für Statistiken) stützt, sind heute zweimal weniger junge Polen unter 25 Jahren von Arbeitslosigkeit betroffen, als 1995. Die aktuelle „verlorene Generation” hat außerdem einen weiteren Trumpf im Ärmel: das Bildungsniveau. In Polen studieren heute fünfmal mehr junge Menschen als 1991. Der Prozentsatz der aktiven Hochschulabgänger ist auf das 2,5-fache angestiegen.

Krisenzeiten führten in Polen immer wieder zu einer tiefgreifenden Umstrukturierung der Wirtschaft. Seit 2008 hat sich die Produktivität unserer Arbeit um 20 Prozent erhöht. Industrieentwicklung und Innovationen wie Molekularforschung oder die Produktion hochwertiger Autoteile locken große Unternehmen aus dem Süden nach Osteuropa, und besonders nach Polen.

In gewisser Weise ist die hohe Arbeitslosigkeit der Preis ist, den man für die Verbesserung der polnischen Wettbewerbsfähigkeit und den dauerhaften Vorsprung vor der Konkurrenz zahlen muss. Den Angaben von Eurostat zufolge ist unsere Produktivität aber immer noch zweimal niedriger als in Deutschland und erreichte im letzten Jahr nur 57 Prozent des europäischen Durchschnitts.

Das deutsche Modell

Deutschland ist und bleibt ein Beispiel für gelungene Arbeitsmarktreformen zur Verbesserung der Beschäftigungsperspektiven junger Menschen. Nicht nur die Jugendarbeitslosigkeit (12 Prozent), sondern die der Gesamtbevölkerung (5,4 Prozent) hat ihr niedrigstes Niveau seit der Wiedervereinigung erreicht und nähert sich langsam der Vollbeschäftigung an. Vor den Reformen von Gerhard Schröder galt Deutschland bezüglich des Arbeitsmarkts als „schwierigster Patient in Europa".

„Wir sollten uns vor allem am deutschen Ausbildungssystem orientieren. Die Berufsaussichten für junge Menschen hängen zum Teil von ihnen selbst und der Fähigkeit ab, ihre Vorstellungen an die Arbeitsmarktrealität anzupassen”, glaubt Katinka Barysch vom Londoner Zentrum für europäische Reformen.

Es gibt viele hoffnungsvolle Anzeichen für die jungen Polen und Europäer, dass das Schlimmste überstanden ist. Auch wenn das Jahr 2012 unter dem Zeichen der Wirtschaftsflaute zu Ende gegangen ist, hat die EU den Zerfall der Eurozone und den Zusammenbruch der Union verhindern können. So unwahrscheinlich es auch heute sein mag, aber in zwei bis drei Jahren werden die jungen Berufstätigen mit ihren ausgezeichneten Kompetenzen den Arbeitgebern ihre Bedingungen aufdiktieren und nicht umgekehrt. (MZ)

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