Muammar al-Gaddafi in Rom, 30. August 2010.

Gaddafi hat recht

Der libysche Staatschef fordert fünf Milliarden Euro, andernfalls droht er damit, die schwarzafrikanischen Zuwandererströme, die sich über Libyen aus nach Europa aufmachen, nicht zu stoppen. Ein Deal, der aufgrund fehlender Alternativvorschläge seitens der EU für Europa vielleicht gar nicht so übel sei, meint der italienische Ökonom Maria Deaglio.

Veröffentlicht am 2 September 2010 um 15:27
Muammar al-Gaddafi in Rom, 30. August 2010.

Der umstrittene Staatsbesuch und insbesondere die antieuropäischen und antichristlichen Äußerungen von Oberst Gaddafi haben die Menschen schockiert. Man sollte aber die subjektiven Gründe für das Unbehagen, das der Besuch des libyschen Staatsoberhaupts im vergangenen August in Rombei den Bürgen Italiens und Europas hervorgerufen hat, beiseite legen und die Dinge objektiv betrachten. Und da können wir nur eine bittere Wahrheit feststellen: Bei dem, was Muammar al-Gaddafi über die Zukunft Afrikas und Europas sagt, hat er im Großen und Ganzen recht.

Europäer, seht die nackten Zahlen

Seine Position stützt sich in der Tat auf unwiderlegbare Zahlen. Jüngsten Bevölkerungsstatistiken der Vereinten Nationen zufolge wird die Gesamtbevölkerung Europas auf rund 730 Millionen Menschen geschätzt, Russland mit inbegriffen (500 Millionen ohne Russland). "Schwarzafrika", anders gesagt das subsaharische Afrika zählt 860 Millionen Menschen. Heute kommt man also im Vergleich auf etwas mehr als einen Schwarzafrikaner pro Europäer. Vor sechzig Jahren kam auf drei Europäer ein Schwarzafrikaner. 2030 werden es, schenkt man verlässlichen Prognosen Glauben, zwei Schwarzafrikaner pro Europäer sein.

Die schwarzafrikanische Bevölkerung steigt jährlich um 20 Millionen Menschen. Bei diesem Tempo wird sie im Jahr 2017 die Milliarde erreichen, und geht man von der Hypothese eines mäßigen Anstiegs aus, wird die Einwohnerzahl im Jahr 2030 die 1,3 Milliarden erreichen. Die europäische Bevölkerung hingegen wird bis 2020 stabil bleiben, danach wird die Einwohnerzahl voraussichtlich jährlich um rund eine Million sinken. 60 Prozent der Schwarzafrikaner sind jünger als 25 Jahre und nur acht Prozent älter als 65. In Europa ist die Zahl bei den jungen Leuten um die Hälfte geringer — 30 Prozent der Gesamtbevölkerung — und bei den Senioren doppelt so hoch, 16 Prozent der Gesamtbevölkerung. Diese Diskrepanz wird sich in den zwei kommenden Jahrzehnten noch deutlich verschärfen.

Der Oberst hat den Schlüssel zu Europa

Wir müssen uns den Tatsachen stellen und diese Zahlen akzeptieren, auch wenn sie uns in einem extravaganten oder auch beleidigenden Ton vorgetragen werden. Im Gegensatz zu uns sind die Schwarzafrikaner generell arm und stammen aus Ländern die von AIDS und Krieg verwüstet sind. Hunger ist allgegenwärtig und bei der überwiegenden Mehrheit dieser Länder liegt das geschätzte jährliche Jahreseinkommen pro Einwohner zwischen 600 und 1200 Euro (gegenüber 23.000 bis 30.000 Euro in Europa). Wäre man selbst an der Stelle eines afrikanischen Familienvaters, der sich um die Zukunft seiner Kinder sorgt, man würde auch seinen begabtesten Sohn in einen jener überfüllten Busse stopfen, in denen ein Pappkoffer schon Luxusgut ist.

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Der Bus fährt über staubige Savannenpisten. Von drei solchen Bussen fahren zwei nach Libyen. Und genau dort kommt Gaddafi ins Spiel, von dem man durchaus behaupten kann, dass er in den Augen der Afrikaner die Schlüssel zum Paradies Europa besitzt. Und was fordert das libysche Staatsoberhaupt ebenso nüchtern wie frech von den Europäern? Dass man zahlt, damit er die Pforten geschlossen hält. In Rom sprach er in seiner Rede von den "barbarischen Invasionen", was durchaus kein hinkender Vergleich ist: Die Absichten der Barbaren vor den Pforten des Römischen Reichs vor 1700 Jahren waren nur selten kriegerisch. Die meisten Menschen hatten schlicht Hunger. Um sie aufzuhalten, dienten den Römern — so weit möglich — bestimmte Länder als "Pufferzone". Und genau das ist die Rolle Libyens, die uns Muammar al-Gaddafi heute anbietet.

"Nein" sagen reicht nicht

Das passt uns nicht? Es reicht nicht, einfach nur "nein" zu sagen. Man muss schon eine Alternative bieten können. Die italienische Regierung hat ganz offensichtlich keine parat. Und die gesamte europäische Spitzenpolitik auch nicht. Und auch jeder alternative Vorschlag hätte seinen Preis. Und der könnte sehr hoch sein, beispielsweise wenn man Initiativen in Betracht zieht, bei denen man massiv in Afrika investiert, in der Hoffnung, dass die wirtschaftlichen Perspektiven des Kontinents sich verbessern und irgendwann für Europa und Afrika auszahlen werden.

Es muss der europäischen Öffentlichkeit klar gemacht werden werden, dass ein Preis zu zahlen sein wird. Die Ruhe an den südlichen Grenzen wird nicht ewig dauern. Man könnte sogar meinen, dass die von Gaddafi geforderten fünf Milliarden unterm Stricht zumutbar sind. Immerhin wird er es sein, der die potenziellen Einwanderer abwehren soll, damit wir Europäer am anderen Mittelmeerufer weiterhin in unseren Prinzipien schwelgen können, die Europas Größe ausmachen, und in deren Namen wir verlangen, dass uns der Rest der Welt auch in Zukunft mit Respekt behandelt.

Übersetzung: Jörg Stickan

Gaddafi in der Presse

Der Größenwahn des Geschäftsmanns

"Ein weiteres Mal war Rom der Schauplatz kontroverser Erklärungen und Äußerungen des libyschen Diktators, die den internen, arabischen Markt betreffen." Dort versteht sich Gaddafi als Führer und Propagandist des Islam und fordert Entschädigungen der ehemaligen Kolonialmächte, schreibt die polnische TageszeitungRczespospolita und vergleicht die extravaganten Forderungen des Staatschefs mit "dem Größenwahnsinn von Caligula". La Vanguardiain Barcelona ihrerseits schildert die Geschichte der kolonialen und postkolonialen Beziehungen zwischen Italien und Libyen und stellt fest, dass die gegenwärtigen Beziehungen "von wirtschaftlichen Interessen dominiert sind": "Öl, Bankwesen, Automobilindustrie, Bauwesen, Medien, Tourismus…", kein Sektor scheint von überlappenden Investitionen ausgenommen zu sein. Die Tageszeitung präzisiert, dass einige davon "mit öffentlichen und privaten Interessenkonflikten einhergehen, da die an Silvio Berlusconi und Mouammar al-Gaddafi gebundenen Gruppen an den Verhandlungen teilnehmen". In Brüssel dagegen "kommentiert man die Erklärungen von Gaddafi nicht", berichtet La Stampa in ihrem Blogin Bezug auf die Frage der fünf Milliarden Euro, die der libysche Revoluitonsführer für die Eindämmung der Flüchtlingsströme im Mittelmeerraum erhalten soll. Nach inoffiziellen Erklärungen aus Brüssel, so die Tageszeitung, "ist es notwendig, den Kontakt zu Libyen zu erhalten". So wurden bereits Abkommen in den Bereichen der wirtschaftlichen, sanitären und energetischen Zusammenarbeit mit einem Budget von 60 Millionen Euro für den Zeitraum 2011-2013 unterzeichnet.

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