„Siena ist rot, aber vor Scham“, meint ein aufmerksamer Beobachter der Entwicklungen in Siena bei einer Tasse Espresso zu den jüngsten Enthüllungen über die Verluste der Bank. Auch weil die Bevölkerung Sienas seit 700 Jahren eine perfekte Darstellung der Gemütslage der Stadt praktisch direkt vor Augen hat.
Ambrogio Lorenzettis Freskenzyklus über die gute und schlechte Regierung [im Palazzo Pubblico in Siena] zeigt die Folgen schlechter Regierungsführung: eine Stadt, die in Schutt und Asche liegt, und öde, verwahrloste Landstriche. Roberto Barzanti, der große alte Mann der örtlichen Linken, Mitglied der [in dieser Form nicht mehr existierenden] kommunistischen Partei Italiens PCI und in dieser Funktion einst Bürgermeister der Stadt, als die MPS gerade ihr 500-jähriges Jubiläum beging, führt die heutigen Missstände auf den der Sieneser Mentalität innewohnenden Aberglauben zurück, der eine Sprengung der Bande zwischen Politik und der MPS niemals zuließ.
„Die Umwandlung dieser ehemaligen Körperschaft öffentlichen Rechts in eine Aktiengesellschaft 1995 war eine schwerere Geburt als anderswo“, meint der Politiker und langjährige EU-Parlamentarier. Die Sieneser konnten sich nur schwer mit dem Gedanken an eine Trennung zwischen Tätigkeit für das Gemeinwohl und Bankaktivitäten anfreunden, die durch die Gründung einer Stiftung und die Schaffung eines börsennotierten Geldinstitutes gewährleistet werden sollte. So wurde das letztlich zwar umgesetzt und die Änderung realisiert, doch eigentlich alles getan, damit sich in Wirklichkeit nichts änderte.“
Das System „Milchkuh“
Daher die „harmonische Verstrickung“, die die ehemalige christdemokratische Großpartei Democrazia Cristiana, die ehemalige kommunistische Partei, Kirche, Freimaurer, Gewerkschafter und Bankiers zusammenhielt. Über die Jobvergabe in der Bank entschieden die Parteivorstände, über jene in der Gemeinde die Bank – sämtliche Sieneser Bürgermeister der letzten 25 Jahre kamen aus der MPS, mit Ausnahme des letzten, Franco Ceccuzzi, der nach etwas mehr als einem Jahr im Amt ebenfalls ein Opfer der Krise des Sieneser Geldinstitutes wurde.
„Babbo Monte“, „Väterchen Monte“, wurde das hier von allen genannt. Oder auch „la mucchina“, „die Milchkuh“, die von allen Vorbeigehenden gemolken wurde, wie einige Spitzfindige meinten. Denn zu melken gab es einiges – wobei hier nunmehr die Vergangenheitsform zu verwenden ist –, und zwar für alle.
Allein die Stiftung stellte von 1995 bis 2010 etwa zwei Milliarden Euro für örtliche Projekte zur Verfügung: Straßen und Restaurierungsarbeiten, Sportvereine, Freiwilligenvereine – nach einem strengen Verteilungsschema, sodass sich niemand wirklich beklagen konnte: Es war egal, welcher Couleur man angehörte.
Die Trümmer eines Systems
Vor einem Jahr, als klar wurde, dass die Bank am Rande des Abgrunds stand, war dann Schluss damit. Seitdem ging es stetig bergab. Die örtliche PD [Partito Democratico, Demokratische Partei, Mitte-links-Bündnis, hervorgegangen aus der PCI] zerfiel, und ein Teil (La Margherita, ehemalige Zentrumspartei) sprach dem Ex-Bürgermeister Franco Ceccuzzi bei Vorlage des Budgetentwurfs ihr Misstrauen aus und focht die Posten an, die die Zuschüsse des Geldinstitutes betrafen.
Während die Politik sich mit den Trümmern des „Sieneser Systems“ herumschlägt, macht sich die Zivilgesellschaft Gedanken über die Zukunft. Der durch die roten Zahlen bedingte Sparkurs hat in den letzten Tagen zu Kürzungen bei Finanzierungen und Sponsoring geführt.
Opfer dieser Kürzungen wurden der Fußballverband Siena Calcio, dessen Zuschüsse inoffiziellen Informationen zufolge von vier auf eine Million reduziert wurden, und die Basketballmannschaft Mens Sana, wahre Leidenschaft der Sieneser Sportbegeisterten, für den es nun angeblich statt 12 nur mehr 4 Millionen Euro geben soll. Doch auch die 250 000-Euro-Spritze für das Palio wurde um 15 000 Euro pro Stadtteil gekürzt – ein eigentlich geringer, symbolisch jedoch beträchtlicher Betrag.
„Paradoxerweise könnte das Ende der Zuschüsse zumindest eine positive Seite haben“, meldet der Blog „l’eretico di Siena“, ein wertvolles und vielgelesenes Medium über das Stadtleben –, „denn so werden alle verstehen, dass eine Ära zu Ende geht, und zwar für immer.“