Europa, der blinde Krieger

Der Nobelpreisträger Europa ist seit 15 Jahren im Krieg – vom Balkan über Libyen bis nach Afghanistan … und heute in der Sahelzone. Diese Interventionspolitik hat einen Mangel. Sie entbehrt des Weitblicks.

Veröffentlicht am 28 Januar 2013 um 16:26

Beeindruckend, wie so unmittelbar vor den Wahlen in Italien und Deutschland über ein so entscheidendes Thema wie Krieg großes Schweigen herrscht. Man spricht nicht darüber, weil der Schauplatz der Konflikte nicht hier bei uns ist. Und doch gehört der Krieg für uns schon länger zum Alltag.

Er wird nicht von Europa geführt, das keine gemeinsame politische Regierung hat, aber ist nun Teil des Bildes, das die Welt von Europa hat. Berücksichtigt man neben dem endlosen Anti-Terror-Krieg noch den Balkankonflikt Ende des 20. Jahrhunderts, ist Europa seit 14 Jahren ständig an Kriegshandlungen beteiligt.

Anfangs wurde darüber heftig diskutiert: Sind diese Kriege notwendig oder nicht? Und wenn nicht, warum führen wir sie dann? Sind es wirklich humanitäre Kriege oder doch Zerstörungskriege? Und wie fällt die Bilanz der globalen Anti-Terror-Offensive aus: Geht der Terrorismus durch sie zurück oder nimmt er zu?

Die Politiker schweigen sich aus, und kein europäischer Staat fragt sich, was diese Union eigentlich ist, die diesbezüglich nichts zu sagen hat, weil sie so sehr auf ihre Währung konzentriert ist. Europa ist blind in eine neue Ära neo-kolonialistischer Kriege gegangen und sieht nicht wirklich klar.

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Kriege – häufig blutig, selten erfolgreich

Die Kriege – häufig blutig, selten erfolgreich – werden nie beim Namen genannt. Und versteckt geführt: Es heißt, sie werden verfallende Staaten stabilisieren, demokratisieren, werden vor allem kurz und nicht teuer sein. Der am 12. Januar in Mali begonnene Krieg wird von Frankreich und [François] Hollande geführt, mit etwas Unterstützung durch afrikanische Soldaten und mit Zustimmung – ex post – der europäischen Verbündeten.

Dieser Krieg wurde nicht im Voraus koordiniert, was einer Verletzung des Lissabon-Vertrags gleichkommt (Art. 32, 347). Wir werden fast automatisch in einen Krieg gestürzt, ja es gibt sogar ein Amt mit dem hochtrabenden Namen „Hoher Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik“. Ja, die Amtsinhaberin prüft die aktuelle Lage, aber wer so ein wichtiges Amt innehat, könnte etwas mehr Weitblick beweisen.

Viele Dinge, die man über die Kriege liest, sind irreführend: Sie laden nicht dazu ein, die Ereignisse zu überdenken, sondern nur dazu, diese bedingungslos hinzunehmen, die einzelnen Interventionen quasi als Bruchstücke zu betrachten, die in keinem Zusammenhang stehen. Auch in Sachen Krieg haben Gelegenheitsexperten und Fachkräfte die Oberhand.

Interventionismus wird zur europäischen Geisteshaltung

Interventionismus wird zur europäischen Geisteshaltung, die wir uns von Amerika abgeschaut haben, aber es wird nicht die ganze Geschichte erzählt, die die Bruchstücke verbindet und das Gesamtbild erläutert. Es fehlt ein langfristiges, weitreichendes Denken, durch das unsere Rolle in Afrika, Afghanistan und am Persischen Golf definiert wird; das unsere Denkweise jener anderer Länder gegenüberstellt; das sich mit der Politik Chinas in Afrika befasst, die so intensiv und so anders als die unsere ist: ausgerichtet auf Investitionen, während unser Fokus auf dem Militärischen liegt.

Ein solch weitreichendes und langfristiges Denken sollte es uns ermöglichen, ganz nüchtern Bilanz über Konflikte zu ziehen, bei denen klare Ziele fehlen, die räumlich und zeitlich begrenzt sind: Konflikte, die den bewaffneten Islam noch größer machen, anstatt ihm entgegenzuwirken, die nun von Afghanistan bis in den Sahara-Sahel-Raum reichen. Bei denen niemand aus vergangenen Fehlern lernt, die systematisch totgeschwiegen werden.

Hehre Adjektive reichen nicht aus, um die verheerenden Resultate zu verbergen: Die Interventionen schaffen keine Ordnung, sondern Chaos, keine starken, sondern immer mehr versagende Staaten. Ist alles zu Ende, werden die Staaten sich selbst überlassen, wobei bei der unterstützten Bevölkerung große Ernüchterung ausgelöst wurde. Dann geht es an neue Fronten, als gleiche die Geschichte der Kriege einer touristischen Safari, bei der Jagd auf exotische Beute gemacht wird.

Musterbeispiel Mali

Mali ist ein Musterbeispiel für einen notwendigen und humanitären Krieg. In den letzten zehn Jahren hat das Adjektiv „humanitär“ seine Unschuld verloren. 1994 wäre eine Intervention notwendig gewesen, um den Völkermord in Ruanda zu stoppen, doch man handelte nicht, denn die UNO zog die Soldaten genau dann ab, als das Morden begann. Man musste eine Flucht der vom serbischen Heer vertriebenen Kosovo-Albaner nach Europa vermeiden.

Doch die nachfolgenden Kriege sind nicht notwendig, zumal sie den Terrorismus sichtlich nicht stoppen. Sie sind auch nicht demokratisch, denn wie sonst wären das Bündnis mit Saudi-Arabien und die umfangreiche Unterstützung für Riad zu erklären, viel umfangreicher als jene, die für Israel vorgesehen ist? Die saudische Regierung ist nicht bloß nicht demokratisch: Sie ist einer der größten Geldgeber des Terrorismus.

Der Fall Malis hätte vermieden werden können, hätte Europa das Land genau studiert: Jahrelang Musterbeispiel für Demokratie, ließ man es immer mehr verarmen. Dazu hatte das Land mit den verheerenden Folgen seiner künstlichen Grenzen aus der Kolonialzeit zu kämpfen. Die Wurzeln des Unabhängigkeitskampfes der Tuareg, der am 6. April 2012 in der Unabhängigkeit des Azawad im Norden gipfelte, reichen weit zurück, jahrzehntelang wurden sie ignoriert und niedergeredet.

Von einem Krieg zum nächsten

Zur Bekämpfung eines anfänglich nicht religiösen Unabhängigkeitsstrebens nahm man das Entstehen islamischer Milizen hin und legte damit die gleiche Dummheit an den Tag wie einst in Afghanistan. So stützten sich die Tuareg erst auf Gaddafi, dann auf die Islamisten: Diese fielen Anfang 2012 im Norden ein, wodurch der Tuareg-Kampf unter ihre Kontrolle kam und durcheinandergeriet.

Doch der schlimmste Fehler ist, die Kriege der letzten Jahrzehnte nicht in ihrer Gesamtheit zu betrachten. Aktionen an einem bestimmten Ort der Welt wirken sich anderswo aus, der Fall Libyen geht auf das Scheitern in Afghanistan zurück, die Situation in Mali wiederum ist eine Konsequenz des Teilscheiterns in Libyen. Leider wird jeder Krieg begonnen, ohne kritisch auf die vorangegangenen Konflikte zurückzuschauen.

In Libyen war man zu lange siegessicher, bis schließlich am 11. September 2012 in Bengasi US-Botschafter Christopher Stephens ermordet wurde. Erst da wurde klar, dass viele Gaddafi-Milizen, ob Tuareg oder Islamisten, in den Azawad gegangen waren. Dass der Krieg nicht zu Ende war, sondern in Mali neu beginnen würde.

In den letzten sieben Jahren ist die Anzahl der Wahldemokratien in Afrika von 24 auf 19 gesunken: eine Niederlage für Europa und den Westen. Und China sieht zu und frohlockt. Seine Präsenz in Afrika wird immer stärker. Doch durch seine Interventionspolitik wurden bislang bloß Straßen gebaut, keine Kriege geführt: ein Kolonialismus der anderen Art, dessen Stärke in Ausdauer und Geduld liegt.

Vielleicht sind Europa und die USA so kampflustig, weil sie Peking die Vorherrschaft in Afrika und Asien streitig machen wollen. Es ist nur eine Hypothese, doch würde in Europa endlich eine Diskussion beginnen, spräche man auch darüber, was sicher sinnvoll wäre.

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