Geist Europas, bist du noch hier?

Der Niedergang Europas ist ein Gedanke, der im Trend liegt. Verstärkt wird er durch die schlechten wirtschaftlichen und demografischen Indikatoren. Doch eine Zivilisation wird auch nach ihrer schöpferischen Kraft beurteilt, wie uns ein französischer Intellektueller erinnert.

Veröffentlicht am 10 September 2010 um 11:22

Sind wir, wie die Römer der Spätantike, beim letzten Kapitel unserer glorreichen (und gewalttätigen) Geschichte angelangt? Hedonisten und Zyniker, die nicht an ihre Gesetze und auch an keinen Gott mehr glauben, die sich über alles lustig machen außer über sich selbst, unfähig, sich die Zukunft vorzustellen, durch Komfort verweichlicht, oberflächlich und verwöhnt... haben wir etwa verdient, dass uns andere, jüngere, ambitioniertere, stärkere Völker den Rang ablaufen? Die Analogie zwischen der heutigen Situation der Europäer und dem Niedergang Roms ist verlockend... aber Vorsicht! Nehmen wir uns vor dem naheliegenden Pathos des Niedergangs und vor reaktionärem Gebaren in Acht. Um eine solchen Situation von der philosophischen Seite her zu umreißen, bringen wir hier drei Bemerkungen vor.

Bemerkung Nr. 1: Der Mythos des Niedergangs Europas ist so alt wie die Geschichte Europas selbst.

Homer lebte im achten Jahrhundert vor Christus, doch er besingt in seinen Epen eine weit frühere Zeit: Der Trojanische Krieg spielt sich etwa im Jahr 1200 vor unserer Zeitrechnung ab. Wie die meisten seiner Zeitgenossen träumte Homer vom vergangenen Glanz der mykenischen Kultur (ca. 1600 bis 1200 v. Chr.), die durch die Einwanderung der Dorer aus dem Norden gestürzt wurde.

Wenn die Figuren bei Homer – Odysseus, Achilles, Agamemnon und die anderen... – derart edle Tugenden besitzen, dann weil sie als Angehörige einer überlegenen Menschheit gelten. Doch Homer war der allererste Historiker und nach ihm sollte der Mythos des Niedergangs ein unumgängliches Motiv werden, eine Obsession in der Kultur des Alten Kontinents.

Im späten Mittelalter tauchte die Nostalgie des Goldenen Zeitalters unter der Feder von Dante oder Machiavelli wieder auf, doch diesmal trauerte man der Macht des Römischen Reiches nach. Im Zeitalter der Aufklärung interessierte sich auch Montesquieu für den Niedergang Roms, doch eher um den übermäßigen Autoritarismus der Cäsaren und damit indirekt die Monarchie zu kritisieren.

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In jüngerer Zeit, nach dem Ersten Weltkrieg, waren die Historiker Oswald Spengler und Arnold J. Toynbee der Meinung, das Abendland sei krank oder gerade dabei, sein eigenes Grab zu schaufeln; sie verfolgen den Todestrieb, der unsere Zivilisation unterirdisch angreift. Alle diese Autoren, von Homer bis Toynbee, rühmen eine verschwundene Größe und kündigen eine Katastrophe an, doch allein mit dem Ziel, das Fundament ausfindig zu machen, durch welches die Geschichte wiederbezaubert werden kann.

Bemerkung Nr. 2: Der Mythos des Niedergangs wird heute in der formalen Sprache der Zahlen und der Ökonomie ausgedrückt.

Das ist die große Neuheit unserer Zeit: Heutzutage wird uns der Spiegel unserer Entkräftung nicht etwa von einem genialen Schriftsteller, sondern vielmehr von den trockenen Zahlentabellen der statistischen Institute Eurostat oder Weltbank entgegengehalten. Diese Zahlen haben im Übrigen eine ganz eigene Sprachgewalt, angesichts derer man nur schwer ungerührt bleibt.

Mit ihren 500 Millionen Einwohnern macht die Europäische Union (EU) heute nur 7,3 Prozent der Weltbevölkerung aus. Sie verzeichnet das schwächste demografische Wachstum der Welt (-0,05 Prozent in Deutschland, 0,7 Prozent in Italien im Jahr 2008) und wird zusehends älter. Das Wirtschaftswachstum ist ebenfalls rückläufig: seit Anfang dieses Jahres durchschnittlich 0,2 Prozent für die 27 Länder der Union, -4,2 Prozent im Jahr 2009 (im Vergleich dazu beträgt das Wachstum rund 10 Prozent in China, 8 Prozent in Brasilien und 6,5 Prozent in Indien). Im Jahr 2008 lebten 17 Prozent der Einwohner Europas unter der Armutsgrenze, bei jungen Leuten steigt der Anteil auf 20 Prozent...

Nicht nur besitzt die EU auf ihrem eigenen Boden so gut wie keine Industrie mehr, sondern deren Prunkstücke werden auch nach und nach von ausländischen Investoren aufgekauft.

Doch bewertet man die Nationen durch reine Haushalts- und Bilanzkriterien, ignoriert man andere Dimensionen wie Lebensqualität, Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung, Rechtsstaat, korruptionsfreies Gerichtswesen, Verkehrsinfrastrukturen usw.

Nehmen wir einmal an, die Dinge vor unserer Geburt liefen so ab wie es sich Plotin einst vorstellte, also dass die Seelen langsam auf die Körper herabsinken. Stellen Sie sich vor, Sie wären eine dieser auf die Welt kommenden Seelen und auf ihrem astralen Weg zur Inkarnation spräche Sie ein Engel an und gäbe Ihnen die Wahl: Sie könnten in Indien, China, Brasilien, Indonesien oder Europa geboren werden. Für welchen Bestimmungsort würden Sie sich entscheiden? Wo hätten Sie wohl die meisten Chancen auf ein freies, gesundes Leben, ohne Angst vor Gewalt, ob von Seiten des Staates oder innerhalb der sozialen Ebene? Wo würden sich Ihre Träume entfalten können? Na, haben Sie sich entschieden? Sind sie noch nicht ganz von Europa geheilt?

Bemerkung Nr. 3: Den Mythos des europäischen Niedergangs auf ein ökonomisches Problem zu beschränken, ist selbst schon ein beunruhigendes Anzeichen für den Niedergang.

Lassen wir uns hier von den letzten Seiten der 1918 veröffentlichten Schrift "Der Untergang des Abendlandes" von Spengler leiten: "Wirtschaftliches Denken und Handeln ist eine Seite des Lebens", schrieb er. "Jedes Wirtschaftsleben ist Ausdruck eines Seelenlebens." Anders gesagt, Wohlstand oder Flaute einer Ökonomie tun nur einen bestimmten Stand der Kultur und des Geistes kund.

Ein Jahr später, 1919, schlug Paul Valéry in die gleiche Kerbe. Der erste Satz seiner Schrift "La Crise de l’Esprit" (Die Krise des Geistes) ist berühmt geworden: "Wir Kulturvölker, wir wissen jetzt, dass wir sterblich sind." Die darauf folgende Argumentation ist weniger bekannt, dabei ist sie fesselnd. "Die wirtschaftliche Krise", so erklärt Valéry über den vom Krieg ruinierten Alten Kontinent, "ist in voller Stärke sichtbar; aber die geistige Krise, die heimlicher ist und ihrem Wesen nach die täuschendsten Formen annimmt (spielt sie sich doch im eigensten Bereich der Täuschung ab), sie lässt nur schwer ihren wirklichen Grad, ihr Stadium erkennen." Vorsicht, Stärke und Menge dürfen nicht verwechselt werden, warnt Valéry. Über der Einordnung der Regionen unseres Planeten nach statistischen Kriterien – Bevölkerung, Fläche, Rohstoffe, Einkommen usw. – könnten wir vergessen, dass diejenigen Kulturen, die ein bemerkenswertes historisches Werk vollbrachten – ob es sich dabei um die alten Ägypter, das Zeitalter des Perikles oder das Europa der Aufklärung handelt – dies nur tun konnten, weil sie schöpferisch tätig und in der Lage waren, Kunst und Wissenschaft zu fördern, und weil sie ein intensives geistiges Leben besaßen.

1935-1936 verfasste der deutsche Philosoph Edmund Husserl eine Schrift, die einen Meilenstein darstellen sollte: "Die Krisis der Wissenschaften als Ausdruck der radikalen Lebenskrisis des europäischen Menschentums". Darin sagt Husserl aus, die Vorrangstellung der Vernunft habe die Größe Europas ermöglicht. Der Vorsatz der Griechen, die gesamten Erscheinungen der Welt zu verstehen, ist für Husserl das ursprüngliche Sprungbrett für unsere Zivilisation. Im Namen der Vernunft sollte der Aufschwung der Wissenschaften in der Neuzeit vollendet werden, sollte die Aufklärung das Joch des Ancien Régime abschütteln. Doch "die ganze Weltanschauung des modernen Menschen" ließ sich "in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts von den positiven Wissenschaften bestimmen und von der ihr verdankten ‚prosperity’ blenden", stellt Husserl fest. Als humanistische Wissenschaften und Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert voneinander getrennt wurden, war dies ein sehr schlimmes Vorgehen, da dadurch das Ziel des griechischen Vorsatzes zerschlagen wurde. Philosophie, Psychologie, Soziologie und Politikwissenschaft wurden an die Seite der Subjektivität, der Literatur verworfen. Die Vernunft konnte nur noch in den harten Wissenschaften angewendet werden und drückt sich nur noch durch die Sprache der Mathematik aus. Doch die Mathematik bietet keine Antwort auf unsere Hilfslosigkeit und auch kein neues Schicksal.

Indem sie die Vernunft auf eine Rechenmaschine beschränkte, gab die europäische Menschheit ihr Gründungsprojekt auf. Sie löste sich in gewisser Weise selbst auf. "Bloße Tatsachenwissenschaften machen bloße Tatsachenmenschen." Womit wir bei unserer Schlussfolgerung angelangt sind. Die Tatsache, dass wir heute den Niedergang Europas nicht anders als mit Hilfe von Statistiken darstellen können, ist vielleicht noch beunruhigender als der Inhalt besagter Statistiken, denn sie beweist, dass unterwegs, irgendwo hinter uns, unser Geist verloren gegangen ist.

Übersetzung: Patricia Lux-Martel

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