Während eines Treffens der sozialdemokratischen Partei Schwedens, Stockholm am 16. September 2010.

Sozialdemokratie: Ein Modell von gestern

Zum ersten Mal ist der Geschichte des Königreichs dürfte am 18. September eine konservative Regierung wiedergewählt werden. Im beispielhaften Wohlfahrtsstaat Schweden tritt der Individualismus immer mehr an die Stelle der Solidarität.

Veröffentlicht am 17 September 2010 um 14:56
Während eines Treffens der sozialdemokratischen Partei Schwedens, Stockholm am 16. September 2010.

Den Sozialdemokraten droht ein Wahlfiasko [gegenüber der rechtsliberalen Koalition unter Ministerpräsident als Fredrik Reinfeld]. 2006 erlitten sie bereits eine bittere Niederlage mit nur 35 Prozent der Stimmen, und am Sonntag dürfte das Ergebnis kaum die 30-Prozent-Marke übersteigen, was sicherlich zu bissigen Kommentaren über das Sterben der Sozialdemokratie im Land führen wird.

Die Partei wird zweifelsohne zur selben Analyse kommen wie 2006: Die Schweden schätzen zwar unsere Politik, ganz ehrlich, nur sind wir leider miserabel in der Kommunikation. Der Soziologe Stefan Svallors, der seit langem über den Wohlfahrtsstaat forscht, teilt diese Analyse. Seit 1986 hat er regelmäßig die Schweden befragt, was sie über das Sozialsystem und den Staat denken. "Nichts lässt darauf schließen, dass die Schweden bereit sind, auf die Umverteilung der Reichtümer, die kollektive Finanzierung und die staatliche Organisation zu verzichten“, versichert er.

Die Schweden mögen keinen Kollektivismus

Anders gesagt, die Politik der Sozialdemokraten sei gut, aber deren Kommunikation schlecht. Reicht das als Erklärung? Hat nicht doch ein Wandel in der Gesellschaft stattgefunden? Nehmen wir als Beispiel das Geldes. Wir Schweden sind das Volk mit dem höchsten Anteil von Aktionären, wie die Unternehmensberatung Sparekonomen feststellte. Fast 25 Prozent der Schweden besitzen Aktien. Zählt man die diversen Renten- und andere –fonds hinzu kommt man gar auf 80 Prozent. Die Schweden sind wohlhabend. Und hätte diese Entwicklung nicht vielleicht zu bedeuten, dass die Schweden heute erst einmal an ihre eigenen Finanzen denken als an die sozialen Ungleichheiten, wenn sie sich in die Wahlkabine begeben?

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Will man auf die Wurzeln des schwedischen Temperaments zurückkommen, sollte man "Ist der Schwede ein Mensch?“ [Är svensken en människa ?] von Henrik Berggren und Lars Trädgårdh lesen. Die beiden Autoren kommen zu dem Schluss, dass den Schweden der Kollektivimus ein Gräuel ist. Stattdessen, meinen sie, beruhe das schwedische Modell der Sozialdemokratie auf einem starken und einsamen Individuum. Gleichzeitig verfolgt man das Ideal von Gleichheit und Gerechtigkeit, und legitimiert somit einen starken Staat. Ziel sei nicht die enge Gemeinschaft, wo alle im Kreis sitzen und sich Küsschen geben. Es gehe eher um Eigenverantwortung und um persönliches Engagement.

Die Tatsache, dass es den Menschen finanziell gut gehe, hat aus den Schweden keine Geizhälse gemacht, aber schlummernde Reflexe hervorgerufen, mit denen die Sozialdemokraten nicht umzugehen wussten. Professor Svallfors Studie über die Solidarität seiner Mitbürger ist nicht frei von Mängeln. Sie erforscht nur die Haltung der Schweden zum Steuersystem. Doch kann man auch solidarisch sein, ohne dem Staat ein Küsschen zu geben oder es "cool“ zu finden, seine Steuererklärung abzugeben. Seit 2006 wurde das Arbeitslosengeld gekürzt, Apotheken privatisiert und die staatliche Krankenversicherung knausert. Es gab Steuersenkungen in zahlreichen Bereichen: Kapitalsteuer, Grundsteuer. Und all diese Reformen sollen die Schweden nicht verändert haben?

Jeder Einzelne schlägt sich alleine durch

Die Arbeitsmarktpolitik der Regierung ist nicht mehr so beliebt wie zuvor. Heute denken immer weniger Menschen, dass der Staat den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit finanzieren sollte. "Entweder glauben die Menschen nicht mehr daran, dass die Maßnahmen der Regierung fruchten könnten, oder sie sehen die Arbeitslosigkeit als ein Problem, dass nur die Arbeitslosen selbst betrifft“, analysiert Stefan Svallors. Ist das nicht der Punkt, den die Sozialdemokraten nicht begriffen haben? Dass die Schweden meinen, der Arbeitslose müsse sich selbst in die Hand nehmen?

Nimmt man die Analyse von Henrik Berggren und Lars Trädgårdh, scheint das gar nicht so abstrus. Diese Art des Denkens hat bei uns schon immer existiert, latent, bereit, wieder aufzutauchen. Im Grunde denken wir, dass jeder sich für sich selber sorgen und jede mögliche Arbeit annehmen soll. Dass jeder morgens aufstehen soll, ob er will oder nicht.

Steht hinter diesen Wahlen — und hinter der Niederlage der Sozialdemokraten — nicht vor allem eine Ethik der Arbeit? Jenes Konzept, an dem die Vorzeigeherren der Arbeiterbewegung so leidenschaftlich hängen? Schenkt man gewissen Umfragen glauben, meint jeder Schwede, dass sein Nachbar die Sozialkassen betrüge. Eine Praxis, die er verabscheut. Der Schwede will nicht noch mehr staatliche Unterstützung. Hat die Ethik der Arbeit das Konzept und Gleichheit und Solidarität verdrängt?

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