José Manuel Barroso, Nicolas Sarkozy und Angela Merkel während des Familenfotos in Brüssel, am 16. September 2010.

Die Verdrängung des europäischen Rechts

Die Kampfansage von Nicolas Sarkozy an die Europäische Kommission – und die Unterstützung durch Silvio Berlusconi – betreffen nicht nur die Roma-Frage. Auf dem Spiel stehen hier die Rolle der gemeinschaftlichen Grundsätze sowie der Zweck der Union selbst, meint Editorialistin Barbara Spinelli.

Veröffentlicht am 17 September 2010 um 17:28
José Manuel Barroso, Nicolas Sarkozy und Angela Merkel während des Familenfotos in Brüssel, am 16. September 2010.

In einem Interview mit Le Figaro trat Silvio Berlusconi in der Frage der Roma-Abschiebung, die zu den Unstimmigkeiten zwischen der französischen Regierung und der Europäischen Union führte, offiziell für Nicolas Sarkozy ein. Der italienische Regierungschef kritisierte die von der EU-Kommissarin für Justiz gegen Paris vorgebrachten Worte und erklärte, "Frau Reding hätte die Frage besser privat mit der französischen Führungsspitze erörtern sollen anstatt sich öffentlich zu äußern, wie sie es getan hat“.

Die Tatsache, dass er heute erneut vorschlägt, die europäische Politik zu privatisieren, indem er verlangt, Uneinigkeiten zwischen der Union und ihren Mitgliedsstaaten sollten doch lieber in den gediegenen Salons der Kanzleien abgehandelt werden, zeugt von dem Bild, das er sich von Europa, von dessen Einfluss auf seine Mitgliedsstaaten und vom supranationalen EU-Recht macht. Ein Bild, das die Vorrangstellung dieses Rechts gegenüber dem Verhalten und den Gesetzen der Mitgliedsstaaten – mit seinen Richtlinien, mit seiner zum Vertrag von Lissabon gehörenden Charta der Grundrechte – einfach negiert. Eben dieser europäische „nòmos“, das europäische Recht, ist den Regierungen der EU-Staaten so lästig und wird trotz seiner Legalität ständig beschnitten und delegitimiert, was schwere Konflikte zwischen formaler Legalität und substantieller Legitimität schafft.

Beschnitten wird es im Namen der nationalen Staatshoheiten, die natürlich nicht verschwinden, jedoch in bestimmten Bereichen einer höheren Macht, der gemeinschaftlichen Macht unterstehen. Der europäische nòmos wird nicht formal abgelehnt (das ginge auch gar nicht), doch er soll verheimlicht und verschleiert werden, wie bei Tartuffe, der, um seine eigene Lüsternheit zu verbergen, in Molières Komödie fleht: „Um Ihres Busens Blöße zu bedecken, denn solche Teufelsdinge untergraben die Sittlichkeit und wecken sündige Gedanken.“

"Kabale der nationalistischen Frömmler"

Schweigen und Omertà, geheime Traktationen zwischen Brüssel und den Mitgliedsstaaten, die Verweigerung eines öffentlichen Platzes, an dem über Dramen wie das der Roma – eines nunmehr in jedem Sinne des Wortes gemeinschaftlichen Volkes – diskutiert werden kann: Wie im Frankreich von Molière und Ludwig XIV. gibt es heute in Europa eine „Kabale“ der nationalistischen „Frömmler“, laut welcher das europäische Recht zwar gültig ist, aber verborgen werden muss, genau wie der hübsche Busen der Magd Dorine.

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Die Frömmler wollen um jeden Preis uneingeschränkt souveräne Staaten aufrechterhalten, deren Entscheidungsfreiheit von Brüssel nicht beeinträchtigt wird. Und dieselben Frömmler wettern, wenn ihnen damit gedient ist, gegen das „Demokratiedefizit“ Europas und seine schweigenden, abweisenden Bürokratien. Diese scheinheilige Inszenierung ist seit der Nachkriegszeit eine französische Spezialität, die Sarkozy heute fortsetzt.

Doch die französisch-italienische Front in der Roma-Affäre offenbart noch etwas anderes. Weder die französischen noch die italienischen Regierenden scheinen sich an den Daseinsgrund dieses zu freimütigen, zu mitteilsamen, zu beredten und mahnbereiten Europas zu erinnern, wenn sie ihn denn überhaupt kennen. Sie haben offensichtlich vergessen, dass die Europäische Gemeinschaft in der Nachkriegszeit eben entstand, damit ein neues supranationales Recht die Staaten daran hindern konnte, ihre Missetaten zu vollbringen und sich dabei hinter ihren kleinen souveränen Heimatländern zu verschanzen.

Die Worte von Reding, eine unumgängliche Ermahnung

Es ist nicht überraschend, dass die christdemokratische Kommissarin Viviane Reding am 14. September vor einer Rückkehr zur Vergangenheit, zur Verfolgung der Juden und Zigeuner im letzten Krieg, warnte. Es waren scharfe Worte, die sie bereut hat und die von vielen als exzessiv beurteilt wurden, die jedoch eine unvermeidbare Mahnung bleiben. Sie erinnern daran, wie die Union nach der Befreiung [Frankreichs von der deutschen Besatzungsmacht] gegründet wurde, und warum. Europa ist das von jedem an sich selbst abgegebene Versprechen, es werde nicht mehr möglich sein, gewisse Dinge zu tun, und zwar indem die gestern noch absoluten Staatshoheiten nun zusammengelegt wurden.

Am 16. September war Europa in Brüssel geteilter Meinung über die Roma-Frage. Manche sprachen von „heftigen Zusammenstößen“ zwischen [Kommissionspräsident] Barroso und Sarkozy. Selbst Deutschland ist nicht unschuldig (viele Roma werden in den Kosovo abgeschoben), doch Bundeskanzlerin Angela Merkel steht hinter der Kommission und ihrem Recht, höhere gestellte Gesetze und Werte durchzusetzen. Die belgische Regierung ebenso. Es gibt nur wenige Unschuldige, doch die einzige Regierung, die den französischen Präsidenten offen unterstützt, ist Rom. Sie ist auch die einzige, die sich das Bild zu eigen macht, das Sarkozy von der Kommission hat: Wenn er die Luxemburgerin Viviane Reding dazu auffordert, die Roma doch in ihrem eigenen Land aufzunehmen, behandelt er die Kommission wie eine Versammlung von nationalen Landesvertretern und nicht als Vertretung der gemeinsamen europäischen Interessen.

Der Pakt des Schweigens wurde gebrochen

Es ist möglich, dass die Schweigepflicht letzten Endes doch überwiegt. Barrosos institutioneller Stolz setzt manchmal aus und es gibt Regierungen (Spanien, die Tschechische Republik), die sich in ihrer Souveränität schnell angegriffen fühlen. Doch der Schweigepakt wurde unverhofft gebrochen und in wesentlichen Fragen findet die Diskussion tatsächlich in der Öffentlichkeit statt: Es gibt zum Thema der Roma eine europäische Agora, wie seinerzeit zum Thema Jörg Haider und Österreich. Barrosos Exekutive wäre wohl der Privatisierung der Politik gefolgt, hätte nicht das europäische Parlament am 9. September lautstark die Abschiebungsmethoden verurteilt. Einer unserer großen Föderalisten, Mario Albertini, sagte, die echte Union werde an dem Tag entstehen, an dem der Föderalismus "die Ebene des alltäglichen politischen Kampfes erreicht... [damit] der Mann von der Straße weiß, dass es, wie Sozialisten, Demokraten und Liberale, auch europäische Föderalisten gibt“. Eben dies geschieht seit Anfang des Sommers, durch die Roma und den politischen Kampf, den sie rund um den Daseinsgrund Europas hervorgerufen haben.

Aus deutscher Sicht

Europäischer Geist mit Schwindsucht

"Sarkozy, Merkel und Europas Populisten“ haben vollen Wind in den Segeln, meint die Süddeutsche Zeitung und bedauert "die Schwindsucht des europäischen Geistes und das Erstarken von Nationalismus und Populismus.“ Für die deutsche Tageszeitung gehört Sarkozy zu nicht jener Spezies von Politiker, "der Risiken bei der Wählerschaft zu Hause eingeht“. "Super-Sarko“, der zu Anfang seiner Präsidentschaft den Lissabon-Vertrag rettete und die EU ungewohnt rasch auf die Finanzkrise reagieren ließ, "macht als Enfant terrible Sivlio Berlusconi Konkurrenz.“ Doch, fügt die Süddeutsche Zeitung hinzu, habe auch Angela Merkel während der Griechenlandkrise bewiesen, dass sie "europapolitisch kein Helmut Kohl ist“. Merkel und Sarkozy sind nicht mehr der Motor Europas, sondern "bedienen nationale Gefühle.“ In Europa sei "kein politischer Führer in Sicht, der mutig über die nationalen Interessen hinausblickt“, schreibt das Blatt aus München.

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