„Ja, ich bin rentabel. 6 500 Entlassungen.“ Die Angestellten von Telefónica protestieren gegen Stellenstreichungen, 15. Februar 2013 in Barcelona

Einstürzende Staatsbauten

Mariano Rajoy spricht zur Lage der Nation. Die könnte düsterer kaum sein. Spanien steckt nicht nur tief in der Wirtschaftskrise. Eine Demonstration jagt die andere, und die Korruption hat ungeahnte Ausmaße angenommen. Wird die Demokratie das überleben?

Veröffentlicht am 20 Februar 2013 um 16:47
„Ja, ich bin rentabel. 6 500 Entlassungen.“ Die Angestellten von Telefónica protestieren gegen Stellenstreichungen, 15. Februar 2013 in Barcelona

Vom König an abwärts gibt es kaum eine Instanz im Staat, die nicht wegen der einen oder anderen Sache erpresst werden könnte. Auch gibt es keine politische Partei, die nicht in dunkle Geschäfte verwickelt und so auf die eine oder andere Weise erpressbar ist.

[Der Geschäftsmann] Diego Torres hat [seinen Partner] Iñaki Urdangarin und dessen Gattin, die Infantin Cristina, in einen Finanzskandal verwickelt, mit dem er nun auch das Königshaus zu erpressen sucht. Bei der letzten Anhörung des ehemaligen Geschäftspartners des königlichen Schwiegersohns sind sogar Juan Carlos höchstpersönlich, eine gute Bekannte des Monarchen und Prinz Felipe aufgetreten.

In der Regierung sieht es nicht besser aus. Mariano Rajoy, Vorsitzender der Partido Popular (PP) und Regierungschef, kann nicht rechtfertigen, warum Luís Bárcenas noch zwei Jahre für seine Partei als Schatzmeister tätig war, obwohl er bereits wegen der Gürtel-Affäre [Korruptionsskandal, in dem hohe Politiker der PP und Unternehmer verwickelt waren] als Senator zurücktreten musste. Niemand weiß oder kann erklären, aus welchem Grund eine Person, die Schwarzgeld in Höhe von 22 Millionen Euro auf einem Schweizer Konto angelegt und mehr als 20 Jahre für die Finanzen der PP zuständig gezeichnet hat, so bevorzugt behandelt wird.

Einmaliger Bestechungssumpf

Jeden Tag gehen die Spanier zum Zeitungskiosk oder ins Internet, um wie in einem Fortsetzungsroman aus dem 19. Jahrhundert die nächsten Abenteuer der Bösewichte zu lesen, die Spanien in ein Land der Korruption verwandelt haben. Das Thema ist in aller Munde. In Büros, Fabriken und Kneipen wird darüber diskutiert. Der Skandal hat solche Ausmaße angenommen, dass die Entrüstung der Bürger keine Grenzen mehr kennt.

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In Katalonien ist die politische Stabilität bedroht, seitdem bekannt wurde, dass Detekteien mit Ermittlungen über die berufliche Tätigkeit und das Privatleben hochrangiger Politiker beauftragt worden sind. Es ist klar, dass diese Ermittlungen Erpressungsversuchen dienen sollten. Einige der aktivsten Fürsprecher der katalonischen Unabhängigkeitsbewegung könnten in den kommenden Wochen wegen Korruption angeklagt werden.

Es ist schwierig eine Konstellation zu finden, die mehr Sterne verbindet als der spanische Bestechungssumpf. Die Empörung wächst, es brodelt in den sozialen Netzwerken und die entrüsteten Bürgerbewegungen beginnen, die ersten Siege über das Parlament und die Entscheidungen der Regierungsparteien zu erringen.

Wenn diese Konstellation nicht aufgelöst wird, wenn die Infantin Cristina in der Korruptionsaffäre, in der ihr Gatte, der Herzog von Palma de Mallorca, aussagen muss und die Parteispitze der PP einschließlich des aktuellen Regierungschefs vernommen wird, könnte die Regierung ins Wanken geraten.

Fehlende Stützpfeiler

In der Zwischenzeit reagiert niemand auf die Erpressung. [Ex-Schatzmeister] Luis Bárcenas managt gekonnt seinen Zeitplan und seine Dokumente. Mariano Rajoy hat nicht nur kein Verfahren gegen ihn eingeleitet, sondern wagt nicht einmal, seinen Namen auszusprechen.

Erpressung erhält oder verstärkt eine Schwäche, je nachdem worauf sie aufbaut. Wenn die Forderungen des Erpressers jedoch zu hoch sind, sollte man lieber die Euthanasie erwägen, um die Leiden des Patienten nicht zu verlängern.

Zu diesem erschütternden Panorama gesellt sich noch die systemische Krise des spanischen Unternehmerverbands CEOE. Der ehemalige Vorsitzende [Gerardo Díaz Ferrán] sitzt wegen Bestechung im Gefängnis. Sein Nachfolger [Joan Rossell] kann das zündeln nicht lassen, stellt die offiziellen Arbeitslosenstatistiken in Frage und beleidigt gleich Tausende von Beamten. Der Vizepräsident [Arturo Fernández] wird wohl bald zum Rücktritt gezwungen werden, wenn aus dem derzeit gegen ihn laufende Verfahren wegen Sozialabgaben- und Steuerbetrug hervorgeht, dass er seine Mitarbeiter schwarz beschäftigt hat.

Bleiben wir beim Thema Krankheit. Der König von Spanien ist nicht mehr der Jüngste, hat gesundheitliche Probleme und muss anstrengende offizielle Aufgaben wahrnehmen. Noch dazu ist das Königshaus nicht solide genug, um eine komplexe Thronfolge vermeiden zu können.

Alles ruht auf den Strukturen des Staates. Wenn sie einstürzen, wird es schwierig sein, die Stützpfeiler zu retten. Die drohende Destabilisierung darf uns jedoch nicht davon abhalten, die Wahrheit an den Tag zu holen. Diesmal sind die Spanier nicht bereit, zu entschuldigen oder zu vergessen.

Analysen

Die Wähler sind die Geiseln des Systems

Für den spanischen Rechtsphilosophen Jorge Urdánoz Ganuza besteht kein Zweifel: Die Korruptionsaffären innerhalb der politischen Klasse Spaniens haben ihren Ursprung im Zweiparteiensystem, das nahezu konkurrenzlos von der konservativen Volkspartei (PP) und der sozialistischen Arbeiterpartei (PSOE) dominiert wird, berichtet El País.

Millionen Spanier aus den kleinen Wahlkreisen haben nur eine Wahl: Entweder wählen sie die PP, egal wie viele korrupte Politiker auf ihrer Liste stehen, oder sie lassen die PSOE gewinnen. Oder umgekehrt. [...] Die PP kann deshalb auf die Flucht nach vorn setzen, weil sie weiß, dass Millionen von Wähler beim nächsten Urnengang nur die Wahl zwischen ihr und der PSOE haben.

Die politische Krise „überlagert die Wirtschaftskrise [...], verhindert eine angemessene Behandlung derselben und macht sie zudem nur noch schlimmer“, berichtet La Vanguardia, für die es sich bei —

... dieser politischen Krise um eine Krise des Rechtsstaats mit zwei fatalen Folgen handelt: Erstens werden Gesetze und juristische Entscheidungen nicht angewandt. Zweitens verlieren die Institutionen zunehmend ihre Glaubwürdigkeit und folglich auch ihre Wirkungsmacht.

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