Boiko Borissow bei einer Pressekonferenz in Sofia am 19. Februar 2013

Borissow hat sein letztes Wort noch nicht gesprochen

Zur allgemeinen Überraschung trat Bulgariens Regierungschef am 20. Februar nach tagelangen sozialen Protesten zurück. Der Kolumnist des Standart entwirft vier mögliche Szenarien für die Zukunft Bulgariens.

Veröffentlicht am 21 Februar 2013 um 15:57
Boiko Borissow bei einer Pressekonferenz in Sofia am 19. Februar 2013

Ist noch niemandem aufgefallen, dass wir in 25 Jahren Demokratie immer nur folgendes Schema wiederholt haben: Retter – Sozialistische Partei (die ehemaligen Kommunisten in der Opposition) – Retter – Sozialistische Partei – Retter – Sozialistische Partei... als wäre ein Fehler im System.

In Bulgarien sieht es normalerweise so aus: Während das Durchhaltevermögen der Retter, die uns von den ehemaligen Kommunisten befreien, recht begrenzt ist, scheinen die Sozialisten unverwüstlich. Interessant, nicht wahr?

Momentan sieht das Ganze aber ein wenig anders aus: Der Retter Bojko Borissow hat seine Ressourcen noch nicht vollständig aufgebraucht und hat es sich auch noch nicht ganz verspielt, wie es die Sozialisten hofften.

Und bis der Gegenbeweis vorliegt, zeichnet sich am Horizont auch noch kein anderer Retter ab. Vielleicht ist es aber auch schon zu spät für einen wahrhaftigen [Retter], einen aufrichtigen, strahlenden und ehrlichen. Folglich müssen wir also mit dem auskommen, was uns zur Verfügung steht.

Das Beste vom europäischen Journalismus jeden Donnerstag in Ihrem Posteingang!

Hier sind vier alternative Szenarien für die Zeit nach dem Rücktritt Bojko Borissows.

Erstes Szenario:

Seit gestern ist ein griechisches Schicksal für die Bulgaren keine Fiktion mehr. Wir wissen weder etwas über das Programm, noch über die Zusammensetzung der zukünftigen „technischen“ Regierung, und auch nichts über die Experten, die den Weg für die Parlamentswahlen im Juli ebnen sollen.

Doch sollten wir uns nicht allzu viele Hoffnungen machen. Schließlich wurde das derzeitige Spiel noch nicht zu Ende gespielt, weil eine der Mannschaften das Spielfeld ganz plötzlich verlassen hat.

Folglich hängt wieder einmal alles an der Transparenz und Aufrichtigkeit der kommenden Wahlen. Das griechische Szenario sieht in etwa so aus: Aus dieser ewigen Kraftprobe zwischen den Sozialisten und den Rettern wird eine links- oder rechtsextreme Fascho-Bewegung à la Goldene Morgenröte ihre Vorteile ziehen.

Einen Vorgeschmack darauf haben uns bereits die rasierten Schädel gegeben, die in einigen Demonstrationen lauthals riefen „Alles Schurken!“.

Und weil alle anderen Parteien „Schurken“ sind, hat die Goldene Morgendämmerung nach bulgarischer Art eine vielversprechende Zukunft vor sich, in der wir uns nach herkömmlichen Nationalisten regelrecht sehnen werden.

Zweites Szenario:

Die Sozialisten übernehmen die Macht. Kann eine sozialistisch geführte Regierung aber den Wohlstand des Landes sichern? Nichts ist unsicherer.

Schließlich wird unsere Regierung es genauso machen wie alle anderen Vertreter des linken Lages in Europa: Sie wird ausgeben was das Zeug hält. Warum? Um sich ihren Ruf bei den Arbeitslosen nicht zu verderben.

Schließlich ist es kein Geheimnis, dass diese im Gegensatz zum beschäftigten Teil der Bevölkerung meist für das linke Lager stimmen. In diesem Dämmerschlaf werden wir einige Jahre verweilen, und anschließend wieder auf die Ankunft eines neuen Retters hoffen müssen! Womit wir wieder da ankommen, wo wir angefangen haben.

Drittes Szenario:

Ein vollständig gelähmtes Parlament. Laut Umfragen erreichen die Sozialisten und die konservative Partei GERB des Regierungschefs annähernd gleiche Ergebnisse: Etwa 29 Prozent für beide.

Hält dieses Kräfteverhältnis an, wird unser Parlament einem Auto ohne Bremsen gleichen, das einen Bären, eine Schlange und einen Zirkuskünstler transportiert und niemandem klar ist, wer wen frisst und wer wen zähmt. Am Wahrscheinlichsten ist wohl, dass das Auto irgendwo vor den Baum fährt.

Dann wird die Bewegung für Rechte und Freiheiten (, welche die Interessen der türkischen Minderheit in Bulgarien vertritt), das Steuer übernehmen. Allerdings werden sie nicht allein regieren können und eine Koalition mit den Sozialisten eingehen müssen.

Und genau dieses Szenario ist uns ja nur allzu gut bekannt. Auch hier gilt folglich: Wir fangen noch einmal von vorne an.

Viertes Szenario:

Bojko Borissow geht als überzeugender Sieger aus den Wahlen hervor und kehrt triumphierend auf einem weißen Ross zurück. Könnte er erneut in die Rolle des Retters schlüpfen? Ist dies möglich?

Ja, weil die Wählerschaft nicht nur aus den paar tausend Menschen besteht, die gegen zu teuren Strom protestieren und von etwa zweihundert Krawallmachern angeführt werden.

Sollte dieser Fall eintreten, werden die Sozialisten sicher ihre Truppen mobil machen, um in den Straßen lauthals „gefälschte“ Wahlen anzuprangern. Borissow ist nicht der Mann im Land, der am meisten gehasst wird.

Nach den jüngsten Ereignissen hoffe ich nur, dass er nun begriffen hat, dass die Menschen ihn nicht nur lieben. Jene aber, die seinen Namen bereits von der politischen Agenda gestrichen haben, irren sich gewaltig.

Gibt es noch eine andere Alternative? Wenn Dummköpfe kundgeben, dass sie keine bekannten Politiker wollen, fühle mich wie vor den Kopf geschlagen. Fremde wollen sie schließlich auch nicht.

Die Anzahl der Menschen, die diese Meinung vertreten, wächst zunehmend und entwickelt sich zu einer handfesten Katastrophe. Dabei sind Politik und jene, die sie zu ihrem Beruf gemacht haben, ein notwendiges Übel. So ist das Leben eben.(JH)

Blick aus Prag

Ein Kampf der Kulturen

Als Reaktion auf die anhaltenden Demonstrationen gegen die Preiserhöhungen des vom Energiekonzern ČEZ gelieferten Stroms, kündigte Bulgariens Regierungschef Bojko Borissow am 20. Februar seinen Rücktritt an. Während dem tschechischen Stromriesen nun ein Lizenzentzug droht, berichtet Hospodářské noviny, dass

die von ČEZ im Balkan getätigten Investitionen von Anfang an Risikogeschäfte waren. [...] So endete die Präsenz des Konzerns in Albanien kürzlich mit einer de-facto Verstaatlichung, weil die Risikogrenzen weit überschritten wurden. [...] Im Fall Bulgariens ist die Sachlage eine völlig andere: Das Land ist Mitglied der EU, die im Streitfall die Rolle des Schiedsrichters spielen kann. [...] Allerdings gleicht die Angelegenheit im Wesentlichen einem Kampf der Kulturen. Während die tschechischen Unternehmen bereits Anfang der 1990er Jahre lernten, wie sie ihre Geschäfte „rein marktideologisch“ abzuwickeln haben, gilt dies in Bulgarien auch heute noch als Betrügerei.

Allerdings könnte dieser Gegensatz dazu führen, dass

die Bulgaren verstehen werden, dass es der Staat ist, der den großen Unternehmen dabei hilft, die Energiepreise festzulegen, und dass es ihr nationaler Regulierer war, der dem zugestimmt hat. [...] Und was die tschechischen Unternehmen anbelangt, werden sie verstehen, dass sie nicht dauerhaft Druck ausüben können, um immer mehr Profit zu schlagen, auch wenn die gesetzlichen Rahmenbedingungen dies erlauben.

Tags
Interessiert an diesem Artikel? Wir sind sehr erfreut! Es ist frei zugänglich, weil wir glauben, dass das Recht auf freie und unabhängige Information für die Demokratie unentbehrlich ist. Allerdings gibt es für dieses Recht keine Garantie für die Ewigkeit. Und Unabhängigkeit hat ihren Preis. Wir brauchen Ihre Unterstützung, um weiterhin unabhängige und mehrsprachige Nachrichten für alle Europäer veröffentlichen zu können. Entdecken Sie unsere drei Abonnementangebote und ihre exklusiven Vorteile und werden Sie noch heute Mitglied unserer Gemeinschaft!

Sie sind ein Medienunternehmen, eine firma oder eine Organisation ... Endecken Sie unsere maßgeschneiderten Redaktions- und Übersetzungsdienste.

Unterstützen Sie den unabhängigen europäischen Journalismus

Die europäische Demokratie braucht unabhängige Medien. Voxeurop braucht Sie. Treten Sie unserer Gemeinschaft bei!

Zum gleichen Thema