Föderales Europa gefällig?

Während es eine erneute Vertrauenskrise durchlebt, hat sich Europa in zwei gegnerische Lager geteilt: Die einen wollen das föderative Projekt wieder ankurbeln, die anderen wollen eine losere Mitgliedschaft im britischen Stil. Und es ist sehr schwer zu sagen, welche Lösung die bessere ist.

Veröffentlicht am 12 Oktober 2010 um 17:24

Hören wir uns doch einmal (etwas vereinfacht und umformuliert) die Meinung eines erfahrenen europäischen Staatsmannes an. „Die Europäische Union ist tot, doch Europa lebe hoch. Es wird nie wieder einen neuen EU-Vertrag geben. Das ‚Reformabkommen’, das vor drei Jahren in Lissabon unterzeichnet wurde, war der höchste Stand des alten föderativen Traums.“ Und dies, so spricht er weiter, sei eine Gelegenheit, kein Misserfolg. „Wenn wir den föderalen Mythos begraben können, dann können wir ein schlankeres, schlagkräftigeres europäisches Projekt aufbauen, dessen Triebkraft vorwiegend von den Nationalstaaten und nicht von Brüssel ausgeht. Wir können eine viel stärkere, viel praktischere europäische Macht aufbauen – eine „puissance Europe“, um den europäischen Lebensstil vor den Angriffen eines trostlosen 21. Jahrhunderts zu schützen.“

Wer das sagt? Der Ausdruck „puissance Europe“ verrät es. Der erfahrene europäische Staatsmann ist kein Brite, obwohl seine Ideen denen der verschiedenen britischen Regierungen seit über 50 Jahren durchaus ähnlich sind. Der erfahrene europäische Staatsmann ist ein Franzose: Hubert Védrine, 63, von 1997 bis 2002 französischer Außenminister und von 1991 bis 1995 Generalsekretär des sehr europäischen Staatspräsidenten François Mitterrand. Védrine drückt nicht nur seine eigene Meinung aus, sondern weist auf das hin, was er als eine neue politische Realität in Europa betrachtet. Und einen neuen Realismus. In Wahrheit ist das allerdings nicht ganz so neu.

Gesamte westeuropäische Regierungselite ist europamüde

Die Regierungen des Kontinents entfernen sich schon seit einem Jahrzehnt und mehr von den föderalen Zielsetzungen, ohne darüber schlüssig zu werden, was das „Europa“ der Zukunft nun eigentlich sein sollte. Man bedenke jedoch folgendes: Präsident Nicolas Sarkozys vergeltende Schlechtmachung Brüssels nach seiner Anti-Roma-Kampagne war teilweise einfach nur Sarko, wie er eben ist. Doch die Bereitschaft – oder der Drang – des französischen Präsidenten, die Kommission anzugreifen, ist der Spiegel einer neuen Europamüdigkeit in Frankreich, sowohl bei den einfachen Leuten, als auch innerhalb der französischen Regierungselite.

Die Bundeskanzlerin Angela Merkel wuchs nicht im Gemeinsamen Markt, der EWG oder der EU auf, sondern in der DDR. Sie betrachtet Europa mit pragmatischem, praktisch orientiertem Blick. Anders als Helmut Kohl hätte sie nie die D-Mark zugunsten des Euro abgeschafft, um eine hauptsächlich politische Aussage zu treffen (und den Franzosen gefällig zu sein). Unter dem törichten Silvio Berlusconi hat das einstmals für ein föderatives Konzept engagierte Italien kein stimmiges Bild von Europa. Die früher föderalistisch gesinnten Holländer haben den Nationalismus wiederentdeckt und sind zur populistischen Rechten abgeschwenkt. Belgien bleibt weiterhin um ein föderales Europa bemüht, doch Belgien existiert kaum. Luxemburg ist, wie Präsident Sarkozy unsanft betonte, ziemlich klein.

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Wer bricht das Tabu Vertragsauflösung?

Die Iberer haben selten sehr viel zur Europa-Debatte beigetragen. Die neuen osteuropäischen Länder sind der EU beigetreten, „weil es sie gab“. Europas wichtige Rolle als Schiedsrichter in ihrem Stolperlauf um Demokratie und Wohlstand wird oft vergessen – vor allem in Osteuropa selbst. Jedenfalls rufen in den Staaten des ehemaligen kommunistischen Blocks nur wenige Stimmen nach einem föderativeren Europa oder nach mehr Macht für Brüssel. Und Großbritannien? Das Programm der Konservativen Partei bei der letzten Wahl sprach davon, die EU auf einen „Zusammenschluss von Mitgliedsstaaten“ zu reduzieren: in anderen Worten, auf einen zwischenstaatlichen Club ohne rechtsverbindliche Verträge oder Regeln. Im Koalitionsabkommen mit den Liberaldemokraten war davon bezeichnenderweise keine Rede.

Sogar die neuerdings euroskeptischen Franzosen und Deutschen – und auch Hubert Védrine – sprechen von loseren zwischenstaatlichen Ansätzen für neue europäische Strategien (etwa bei der Außen- und Verteidigungspolitik, bei der Industriepolitik oder bei gemeinsamen Forschungsprojekten). Sie erwägen (noch) keine Auflösung der verbindlichen Vertragsregeln, die den europäischen Binnenmarkt untermauern. Oder den Euro. Oder den EU-Haushalt. Oder die Gemeinsame Agrarpolitik.

Was wir nicht merken: alles, was läuft, ist supranational

Dennoch scheint David Cameron in einem Europa mit Merkel, Sarkozy und Berlusconi nur wenig zu befürchten zu haben. Und es gibt nur wenig Grund für die Europäer in ihrer jetzigen Stimmung, David Cameron zu fürchten. Falls Védrine Recht hat, könnte Cameron sogar die Gelegenheit bekommen, Europa in die Richtung des pragmatischen, zwischenstaatlichen, kooperativen, nicht-hoheitsgefährdenden Modells zu lenken, das Großbritannien von Anfang an im Auge hatte. Aber hat Védrine denn Recht?

Vieles von dem, was in der EU gut funktioniert (so gut, dass wir es meistens gar nicht bemerken) wird durch die Gesetze der supranationalen Verträge durchgesetzt: der große Binnenmarkt, der die europäische Industrie für ausländische Investoren attraktiv macht, der freie Wettbewerb, der uns zu billigen Flugpreisen innerhalb Europas verholfen hat. Das meiste von dem, was in Europa nicht gut funktioniert – z.B. die europäische Außenpolitik, vor und auch nach Lady Ashton – ist zwischenstaatlich, nicht verpflichtend und undurchsetzbar.

Gruppe gegen "zwischenstaatlichen Irrglauben"

Fast unbemerkt wurde letzten Monat eine neue Gruppe mit Mitgliedern und Nichtmitgliedern des Europäischen Parlaments gebildet, um den sich immer weiter ausbreitenden „zwischenstaatlichen“ Irrglauben zu bekämpfen und die alte föderalistische europäische Religion zu verteidigen. Diese Gruppe wurde nach Altiero Spinelli, dem italienischen Politiktheoretiker benannt, der als einer der Gründerväter des supranationalen EWG-EG-EU-Ansatzes für Europa gilt.

Zu den Mitgliedern gehören der frühere Kommissionspräsident Jacques Delors, der einstige deutsch-französische Studentenrebell und heute wortgewandte grüne Politiker Daniel Cohn-Bendit und der frühere belgische Ministerpräsident Guy Verhofstadt. In ihrer Grundsatzerklärung heißt es: „In einer Zeit der wechselweisen Abhängigkeit und einer globalisierten Welt ist das Festhalten an nationaler Souveränität und zwischenstaatlicher Zusammenarbeit nicht nur eine Kriegserklärung an den europäischen Geist, sondern die Gewöhnung an politische Machtlosigkeit.“ Ich habe Cohn-Bendit angerufen und ihn gefragt, was er von Védrines Argument hält.

Kompetenzabgabe - Ursprung des europäischen Dilemmas

„Das ist doch Unsinn“, sagte er. „Ganz offensichtlicher Unsinn. Wenn man sich ansieht, wo heute in Europa die Misserfolge liegen – bei der Finanzregulierung zum Beispiel, oder beim Klimawandel –, dann sind das genau die Bereiche, in denen die Regierungen (die sich im Ministerrat treffen) unfähig sind, sich untereinander auf etwas Ernsthaftes zu einigen.“ Cohn-Bendit gibt jedoch zu, dass es in den europäischen Hauptstädten einen radikalen Stimmungswandel gegeben hat. Indem er Védrine verreißt, bestätigt Cohn-Bendit eines seiner Hauptargumente. Es gibt tatsächlich eine Glaubenskrise in der EU.

Die Gründerväter der EU bzw. der EWG glaubten, von oben auferlegte europäische Fakten würden letztendlich den Sinn für eine europäische politische Identität erzeugen. Es werde am Ende möglich sein (die „immer engere Union“), zu einer europaweiten Demokratie und einer Art europaweiter Regierung zu gelangen. Nun scheint der Mechanismus, der in den 50er Jahren aufgezogen und in Gang gesetzt wurde, abgelaufen zu sein. Mehr Macht für die EU würde mehr direkte Demokratie erfordern. Die nationalen Politiker und Bürokratien werden niemals bereitwillig mehr direkte Demokratie abtreten, weil sie Legitimität und Staatsgewalt verleiht. Ohne Legitimität wird die EU ungreifbar und ungeliebt bleiben. Und wenn die EU ungreifbar und ungeliebt ist, wird es von Seiten der Bürger wenig Nachfrage nach direkter Demokratie geben.

Unsere Institutionen sind das kleinere Übel

Die Regierungen der Mitgliedsstaaten hegen und pflegen diesen Gordischen Knoten seit Jahren (sogar in den angeblichen Großen Jahren des europäischen Fortschritts). Mit 27 Mitgliedsstaaten (und bald mehr) und den sich wandelnden, weniger auf die Gemeinschaft ausgerichteten Einstellungen Deutschlands, Frankreichs und Italiens wird die gläserne Decke, die den Weg nach oben in Richtung einer föderativeren Zukunft versperrt, wahrscheinlich niemals zerschmettert werden. Védrine ist deprimierend, aber er hat Recht. Cohn-Bendit ist inspirierend, aber er hat Unrecht. Die immer engere Union, die die Römischen Verträge 1957 versprachen, wird wahrscheinlich de facto zur „nimmer engeren Union“ werden.

Doch das soll nicht heißen, dass wir die EU-Institutionen abschaffen oder ihren Einsturz zulassen sollten. Wir hätten im Endeffekt dieselben paneuropäischen Probleme – Handel, Immigration, Umwelt – jedoch ohne Kern und ohne Rahmen für Debatten und Entscheidungen. Védrine spricht davon, die „Nation“ zu rehabilitieren, ohne die destruktiven Mächte des „Nationalismus“ wiederherzustellen. Doch in ganz Europa – von Italien über Belgien und Ungarn bis hin zum schwerfälligen Schweden und zu Sarkozys Frankreich – sind manche der übleren Mächte des „Nationalismus“ schon im Anmarsch. Ob dies wohl ein guter Zeitpunkt ist, die europaweiten Institutionen verfallen zu lassen?

Ein neuer Vertrag muss Institutionen vor Nationalismen schützen

Védrine erklärt nicht, wie denn sein schönes neues Europa auf das existierende, halb fertige supranationale Europa aufgesetzt werden kann. Was auch immer die Briten behaupten mögen, der freie europäische Markt würde ohne EU-Recht und EU-Institutionen nicht einen einzigen Tag überleben. Und Védrine antwortet auch nicht auf Cohn-Bendits unbeantwortbaren Punkt. Zwischenstaatliche Abkommen sind de facto anfällig und befristet, weil Regierungen anfällig und befristet sind. Wie würde Védrine aus seiner neuen Verteidigungs-, Außen-, Industrie- und Forschungspolitik mehr machen als nur eine Reihe von lockeren politischen Pokerspielen, die sich mit jedem Regierungswechsel verändern?

Es könnte mit der EU im nächsten Jahrzehnt sehr wohl etwas passieren, das Védrines Beschreibung nicht allzu fern liegt. Der Wandel könnte als unzusammenhängendes Durcheinander erfolgen. Oder er könnte sich schlüssig und gewollt, transparent und demokratisch vollziehen: eine formale Anerkennung, dass die Vereinigten Staaten von Europa ein unmöglicher und vielleicht sogar destruktiver Traum sind, doch dass die supranationalen, entscheidungstragenden Organe im Kern der EU so nötig sind wie zuvor. Das würde einen neuen EU-Vertrag bedeuten. Dabei sagt uns doch Védrine, die EU habe keine Verträge mehr in sich... Ist da vielleicht ein Staatsmann oder eine Staatsfrau zur Hand?

Übersetzung: Patricia Lux-Martel

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