Zeit zum Kinderkriegen

Um den Bevölkerungsrückgang in Europa in den Griff zu bekommen, müsse man zwei Dinge verstehen, meint der ehemalige Direktor des Französischen Demografischen Instituts: Jedes Land entwickelt sich unterschiedlich schnell und Immigration allein ist keine Lösung.

Veröffentlicht am 13 Oktober 2010 um 14:06

Von einer europäischen Demografie zu reden, ist irrelevant. Doch genau das tut Eurostat, das statistische Amt der Europäischen Union [EU), und bedauert den demografischen Rückgang auf dem Alten Kontinent. Sicher, alle Länder [mit Ausnahme Frankreichs] haben eine unzureichende Geburtenrate zu verzeichnen, und alle haben den demografischen Übergang hinter sich [Geburtenrate niedriger als Sterberate].

Doch selbst wenn Europa eine auf Abkommen fußende juristische Realität darstellt, heißt das nicht, dass man von einer europäischen Demografie sprechen kann. Die Demografie bleibt fundamental Sache der Staaten, und dies aufgrund des unterschiedlichen kulturellen Umfelds in jedem Land. Deutschland hat das Nazi-Trauma noch nicht überwunden. Und wie in England gehört es dort zur Kultur, dass Frauen zwischen Kind und Beruf wählen müssen. Für die Deutschen ist eine berufstätige Mutter eine Rabenmutter.

In Italien, Spanien, Polen [und bald auch Irland] ist der früher die Natalität fördernde Katholizismus eher zu einem Hindernis geworden. Die Spanierinnen, Italienerinnen und Polinnen sind nicht mehr katholisch genug, um zu heiraten, aber doch noch zu katholisch, um uneheliche Kinder in die Welt zu setzen. Und da sie weniger heiraten, bekommen sie auch weniger Kinder. Die osteuropäischen Länder haben ihrerseits das postkommunistische Trauma noch nicht bewältigt.

Eine "europäische Geburtenrate" macht keine Sinn

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Frankreich bildet die Ausnahme. Mit zwei Kindern pro Frau ist die Fertilitätsrate ausreichend und sichert den Generationenersatz. Man muss auch hinzufügen, dass die Franzosen ihren "Übergang“ schon während der Revolution vor zwei Jahrhunderten hinter sich brachten. Das Land wäre dabei fast zugrunde gegangen. Doch während die anderen Länder heute einen brutalen demografischen Übergang durchleben, sind die Französinnen gegen das Geburtendefizit geimpft. Sie heiraten zwar nicht häufiger als die Italienerinnen, aber das hält sie - ganz unkatholisch -nicht davon ab, dennoch Kinder zu bekommen. Die Mehrheit der Kinder wird heute außerehelich geboren. Und im Gegensatz zu den deutschen Frauen müssen die Französinnen nicht zwischen Kind und Beruf wählen.

Eine berufstätige Mutter wird nicht stigmatisiert. Und zu guter Letzt sind Kinder Mode. Ergebnis: In Frankreich zählt man zwischen 825.000 und 850.000 Geburten pro Jahr [bei nur 650.000 im bevölkerungsreicheren Deutschland]. Es gibt ein natürliches Bevölkerungswachstum [ohne Einwanderung] von 300.000 Kindern pro Jahr. Das entspricht 60 Prozent des europäischen Bevölkerungswachstums. In zwanzig Jahren, wenn die Achtundsechziger-Generation ins Sterbealter kommt, wird die Sterberate bei 800.000 Menschen pro Jahr liegen. Bleibt die Natalität auf dem heutigen Niveau wird dies durch die Geburten ausgeglichen.

In weniger als fünfzehn Jahren wird Frankreich bevölkerter und jünger sein als Deutschland. Das Land wird wieder denselben demografischen Rang in Europa einnehmen wie vor der Revolution. Diese französische Ausnahme darf nicht mit dem kollektiven Zusammenbruch in Europa in einen Topf geworfen werden. Sie zeigt nebenbei bemerkt, dass die Franzosen optimistischer sind, als sie vorgeben. Von einer europäischen Geburtenrate von 1,6 Kinder pro Frau zu reden, wenn das Spektrum von 1,3 [Italien] bis 2 [Frankreich] Kinder pro Frau reicht, macht schlichtweg keinen Sinn.

Ohne einheimiche Kinder gibt es keine Integration

Meine zweite Bemerkung betrifft die Lösungsansätze. Die EU-Kommission schlägt nur einen vor: Immigration. Das ist durchaus eine Lösung, kann aber nicht die einzige sein, wenn man nicht wünscht, dass Einwanderung zur Ersetzung der heimischen Bevölkerung mutiert. Es sind die heimischen Kinder, die die Integration der Einwandererkinder ermöglichen. Gibt es in einem Stadtviertel oder in einer Schulklasse keine einheimischen Kinder mehr, so gibt es auch keine Integration!

Das Heilmittel "Natalität" ist also ebenso notwendig wie das Heilmittel "Immigration". Eine Bevölkerungspolitik muss auf zwei Grundlagen beruhen: Natalität und Immigration. Die Bevölkerung Frankreichs nimmt jährlich um 500.000 Menschen zu: 300.000 heimische Kinder, 200.000 zugewanderte. Es gleicht sich aus. Ungleichgewichte gibt es nur auf lokaler Ebene. Es gibt also zwei Antworten auf den Bevölkerungsrückgang: Eine mäßige Einwanderung, die kein Ersatz für die heimische Bevölkerung darstellt, und eine ausreichende Geburtenrate.

Indem sie nur von der Immigration spricht, beweist die Kommission ihren tendenziellen liberalen Malthusianismus. Zudem wird das Heilmittel "Immigration" versiegen. Seit 2000 sind auch die Länder der Dritten Welt in den Zyklus des demografischen Übergangs eingetreten, Algerien beispielsweise. Ohne eine aktive Geburtenpolitik werden die europäischen Länder, Frankreich ausgenommen, zu überalterten Gesellschaften, in denen Opa nicht einmal mehr einen Migranten finden wird, der ihm den Rollstuhl schiebt. (j-s)

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