Eine Mülldeponie in Rzeszów in Südpolen

Wirksam Wegwerfen lernen

Es scheint so, als müsse Polen letztendlich selbst für Ordnung schaffen. Nachdem die Europäische Union das Land an den Pranger stellte, muss es schleunigst zur Religion der „Re“ übertreten – der „Re-duktion“, der „Re-animation“ und der „Re-inkarnation“.

Veröffentlicht am 4 April 2013 um 11:36
Eine Mülldeponie in Rzeszów in Südpolen

Dieses Jahr artete der einfache Frühjahrsputz in einer allgemeinen Abfall-Kontroverse aus. Für ihr Chaos, ihren Dreck und ihre Unmengen von Müll wurden Polen und zehn weitere Länder scharf von der EU kritisiert.

Demzufolge stellt sich folgende selbstverständliche, offenbar dringende, aber außergewöhnlich selten angesprochene Frage: Müssen wir wirklich so viel Müll produzieren? Oder, aus einer etwas anderen Perspektive betrachtet: Ist die moderne Zivilisation von Dingen besessen, die sie möglicherweise in ihr eigenes Verderben laufen lassen?

Heutzutage horten die Leute kunststoffverpackte Lebensmittel und Tafelwasser in ihren Kellern – trotz leistungsfähiger Wasserwerke. Meist horten sie sogar viel zu viel, weil das ein oder andere im Sonderangebot war, ein Ausverkauf stattfand oder es im Sechserpack einfach billiger ist und Sie einfach nicht genug von guten Dingen haben können.

Unsere Eltern oder Großeltern kauften das erste Fernsehgerät im Glauben, es würde ein ganzes Leben lang halten. Und die Lebensdauer der ersten Generation von Mobiltelefonen wurde auf etwa zehn Jahre geschätzt. Wenn sie heutzutage aber einen Tablet-Computer kaufen, ist dieser bereits in dem Augenblick veraltet, in dem Sie ihn erwerben.

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Materialistische Gelüste

Forscher beschreiben den westlichen Zeitgenossen als „Konsumenten“, der immer die „Neuheit“ sucht. Die Fortschritte, die Polen in den vergangenen zwei Jahrzehnten gemacht hat, bezeichnen sie als „nachahmende Modernisierung“. Schon immer begehrten die Menschen Dinge und sammelten sie massenweise. So gestaltete sich Polens Übergang zum Kapitalismus nur als eine neue, intensivere und wirklich amerikanische Version materialistischer Gelüste.

Als Nation leiden die Polen noch immer am Syndrom des gerade flügge gewordenen Konsumverhaltens: Kaufen, um zu besitzen, wegschmeißen, um neu zu kaufen. Preisgünstig. So billig, dass es eine Sünde wäre, es nicht zu erwerben.

„In Polen litt die materielle Kultur stets daran, dass es an allen Ecken und Enden an allen möglichen Dingen mangelte. So verloren Alltagsgegenstände gewissermaßen nie ihren Gebrauchswert“, erklärt Włodzimierz Pessel, Professor für Kulturanthropologie an der Warschauer Universität. Pessel hat sich auf „Garbologie“ (die wissenschaftliche Erforschung von Hausmüll und Abfällen) spezialisiert und sowohl in Polen als auch in Skandinavien unterschiedlichste Forschungsarbeiten durchgeführt.

Die polnische Vorliebe dafür, Müll zu sammeln und der Hang dazu, Dinge aufzubewahren und niemals etwas wegzuwerfen, hat etwas mit der langjährigen Erfahrung mit Übergangslösungen und Behelfsunterkünften zu tun, meint Pessel und fügt hinzu: Diese Erfahrung teilten Millionen von Polen, die jahrhundertelang deportiert, umgesiedelt und enteignet wurden. Die Geschichte Polens ist eine Geschichte kontinuierlicher Umbauprozesse und hastig zusammengezimmerter Lösungen.

Behördlich vollzogene Religion

Im westlichen Teil der EU sind die Re-duktion, das Re-cyceln, die Re-animierung und Re-inkarnation von Abfällen zur offiziellen Religion herangewachsen, die zudem noch mit äußerster Ernsthaftigkeit praktiziert wird. Sollten Sie den Müllbeutel einmal zur falschen Zeit rausstellen, oder Glasgefäße in Kunststofftonnen schmeißen, droht Ihnen eine Strafe. Sogleich wird Ihnen vorgeworfen, unmoralisch zu handeln. Und Sie werden schlicht und einfach gebrandmarkt.

Hinzukommt die überall verbreitete, nervtötende Propaganda für Reinheit und Ordnung, während ganze Tempel hübsch-gesunder Skipisten, Aussichtsplattformen und gemütliche Cafés um hochmoderne Verbrennungsanlagen und längst geschlossenen Mülldeponien gebaut werden.

In Westeuropa sind die Sammelstellen für Elektro- und Elektronik-Altgeräte [WEEE, von engl. Waste of Electrical and Electronic Equipment] von einer ganzen Reihe unterschiedlichster Barrieren umgeben, welche die Menschen daran hindern sollen, den ein oder anderen Gegenstand im falschen Bereich abzuladen. In Polen gibt es diese Absperrungen, um Diebstahl vorzubeugen.

In Deutschland wird momentan etwa die Hälfte der Abfälle recycelt, und sich außerdem darum bemüht, diesen Anteil schnellstens auf 75-Prozent zu erhöhen. In Polen liegt die Recyclingquote bei etwa fünf bis zehn Prozent und ist damit niedriger als in jedem anderen EU-Land, mit Ausnahme Rumäniens und Lettlands.

Unkaputtbare „Re“-Konsumenten

Wird die “Re”-Religion die Lehren des Kapitalismus ablösen? Dieses Dogma des ständigen Produzierens und dem fortwährenden Ersatz von Gegenständen durch neue? Ganz gleich ob diese Dinge nur dem Schein nach besser sind? Haltbares gegen weniger Haltbares eingetauscht wird? Die größten Denker unserer Zeit zeichnen ein Zukunftsbild, in dem die Welt vor allem damit beschäftigt sein wird, ihre Massen dauernd anfallender Abfälle zu recyceln. Die meisten glauben, dass der Kapitalismus unkaputtbar ist und das entscheidende Merkmal der sogenannten späten Postmoderne ist, dass sie einfach kein Ende nehmen kann.

Der heutige Kapitalismus aber würde keinesfalls die Religion des „Re“ propagieren, und sich damit womöglich selbst schaden. Oder all das nur tun, weil es in der Natur der Dinge liegt. Wie heißt es so schön? „Man kann auch dann Profit schlagen, wenn man die Hände in den Müll steckt.“ Die Norweger haben errechnet, dass man mit vier Tonnen Abfall bis zu eine Tonne Öl erzeugen kann. Und genau an diese Politik werden sie sich auch halten. Abfälle sind nicht nur ein Nebenprodukt der Zivilisation, sondern besitzen auch eine riesiges und immer grösser werdendes Geschäftspotential. Schließlich verdient man auf diesem Weg nicht nur Geld, indem man Müll produziert, sondern auch, indem man ihn wiederverwertet.

Lösungen auf lokaler Ebene

Die Bestimmungen, die kürzlich in Polen eingeführt wurden, werden unweigerlich zu Protest führen. Mehr für etwas zu bezahlen, was für immer weggeworfen wird, schockiert nun einmal. Dem nächtlichen Abladen von Müll in nahegelegenen Wäldern oder Flüssen ein Ende zu bereiten, und stattdessen Lösungen auf lokaler Ebene zu finden und erfolgreich umzusetzen: All das scheint recht utopisch zu sein. Nimmt man zudem noch das tägliche Ritual des Trennens von Gefäßen, Kartons, Flaschen, Dosen und Tüten hinzu, so sieht das Ganze ganz danach aus, als wolle man die gesamten Denkweisen revolutionieren.

Für Polen wäre es gut, wenn die Müll-Revolution es schaffen würde, das Land dazu zu bringen, einen Schritt nach vorn zu machen und sich auf seinem Weg als junge Konsumgesellschaft zu einer weniger räuberischen und weniger unbedachten Gesellschaft zu entwickeln. Folglich wird es wohl höchste Zeit, dass wir uns um unseren eigenen Dreck kümmern.

Aus Sicht Bukarests

Alte Dinge, gute Dinge

Das Problem der Wiederverwertung von Abfällen „beherrscht ganz Osteuropa“ und ganz besonders Rumänien, meldet Money Express. Das monatlich erscheinende Wirtschaftsblatt führt eine Studie von 2010 an, aus der hervorgeht, dass „Kühlschränke, Fernsehgeräte, Staubsauger und selbst nicht mehr funktionierende Glühbirnen zu Dingen werden, an denen wir hängen“:

Das liegt nicht nur daran, dass die Leute nicht wissen, was sie damit anfangen sollen, wenn sie nicht mehr funktionieren, sondern [hat auch einen zweiten Grund]: Seit 2010 gibt es kaum noch Abfallentsorgungsunternehmen, die beim Kauf von Neugeräten eine günstige Rücknahme der defekten Altgeräte anbieten.

Nun gibt es seit 2012 aber eine EU-Richtlinie über Elektro- und Elektronik-Altgeräte, die das Recyceln europaweit zur Pflicht macht, betont das Magazin. Die Richtlinie definiert neue Standards für Elektro- und Elektronikschrott-Sammlungssysteme und führt eine Sammelquote ein, in deren Rahmen zwischen 2016 und 2019 mindestens 40 und maximal 45 Prozent des Durchschnittsgewichts der Elektronikgeräte recycelt werden müssen, die in den drei vorangegangenen Jahren in Verkehr gebracht wurden.

Nun haben die Mitgliedsstaaten achtzehn Monate Zeit, um ihre eigenen Gesetze anzupassen. Andernfalls drohen Strafen, deren Tagessätze bis zu 200.000 Euro betragen können,

fügt Money Express hinzu.

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