Wer sind die Barbaren vor dem Tor? Spanische Soldaten im eingezäunten Perimeter um die spanische Enklave Ceuta, September 2005.

Europas triste Abgeschiedenheit

Fünf Jahre nach dem Ansturm von Hunderten von Migranten auf Ceuta und Melilla bleiben die beiden spanischen Enklaven in Marokko ein Symbol für die Schließung der EU-Grenzen, die Quelle einer Art globalen Apartheid, meinen zwei Forscher.

Veröffentlicht am 19 Oktober 2010 um 15:35
Wer sind die Barbaren vor dem Tor? Spanische Soldaten im eingezäunten Perimeter um die spanische Enklave Ceuta, September 2005.

Vor gut fünf Jahren, Ende September 2005, versuchten Hunderte von Einwanderern aus Schwarzafrika, über diese beiden nordafrikanischen Städte in die EU zu gelangen. Fünf von ihnen fielen den Schüssen der [marokkanischen] Grenzpolizei zum Opfer. Insgesamt kamen elf Einwanderungskandidaten ums Leben und viele andere wurden durch den Stacheldraht der Sicherheitszäune schwer verletzt. Heute, fünf Jahre nach diesen Ereignissen, ist es offensichtlich, dass sie im Verhalten der EU gegenüber dem Immigrationsproblem einen Wendepunkt darstellten. Durch die Tragödie von 2005 wurde der EU schmerzhaft bewusst, dass die Leitung der Migrantenströme eine Priorität werden musste.

Somit begann ein neuer Zyklus. Ceuta und Melilla sind heute die am stärksten abgesicherten Grenzposten der EU. Und Marokko überwacht das Gebiet mit einer Beflissenheit, die umso erstaunlicher ist, da die marokkanische Regierung diese Grenzen als unrechtmäßig und kolonialistisch betrachtet. Mit ihrer Migrationspolitik diskriminiert die EU die Menschen in Anbetracht ihres Herkunftslandes. Die Liste der Länder, deren Einwohner zur Einreise in die EU ein Visum vorweisen müssen (und denen das oft nicht gelingt), ist diesbezüglich sehr aufschlussreich.

Immigrationsfeindlichkeit dehnt sich auf ganz Europa aus

Es überrascht, dass diese Liste eine nicht unerhebliche Anzahl von muslimischen Ländern bzw. Entwicklungsländern enthält. So wird stillschweigend nach Religion oder Wohlstandsniveau ausgesiebt. Manche Immigrationsanwärter haben also keine Alternative zur illegalen Einreise und werden somit als Last betrachtet, die sich die EU-Mitgliedsstaaten untereinander aufteilen müssen. Dabei wird niemand als Illegaler geboren. Die Regierungen definieren und stärken diese Kategorisierung. Es ist für sie beinahe unmöglich, legal in die EU einzureisen, und so wird ein Teufelskreis aufrechterhalten: die Zahl der illegalen Einwanderer wird künstlich vermehrt, was die Panik innerhalb der Bevölkerung schürt. Die Populisten auf Wählerfang haben das erkannt und spielen mit dieser Immigrationsfeindlichkeit, die sich auf ganz Europa ausdehnt.

Seitdem der Weg über Ceuta und Melilla verschlossen ist, hat sich ein perverses Katz-und-Maus-Spiel zwischen Migranten und Grenzwächtern eingerichtet, und die Migrationsströme verlaufen heute über andere, gefährlichere Routen. Aus Protest gegen das Schweigen und die Gleichgültigkeit um die Tragödie der Illegalen haben alternative Organisationen wie United Against Racism oder No Borders beschlossen, die Opfer zu zählen. Seit der Schließung der äußeren Grenzen des Schengenraums im Jahr 1993 schätzen sie die Zahl der Menschen, die beim Versuch, die EU zu erreichen, gestorben sind, auf 13.000.

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Europa ist keine belagerte Festung, es ist eine Luxus-Gemeinde

In Ceuta und Melilla nimmt nun eine andere territoriale Realität Gestalt an, nämlich die einer lebendigen, dynamischen, grenzüberschreitenden Interaktion. Die Intensivierung der Arbeiter- und Verbraucherströme zwischen den spanischen Städten und den marokkanischen Provinzen Tetuan und Nador ist der Beweis dafür. Der Alltag, der sich in Afrika um die Grenzen der EU herum organisiert, ist eine Art akrobatisches Kunststück geworden. Diese Grenzgebiete sind hin- und hergezogen zwischen der – von der EU konzipierten und von Spanien durchgeführten – Gebietsreformpolitik und dem Wunsch der autonomen Enklaven, mit ihrer marokkanischen Umgebung, deren Wirtschaft kurz vor dem Aufschwung steht, eine Beziehung aufzubauen.

Dabei wird die Militarisierung des Grenzgebiets, trotz der Veränderungen vor Ort, noch lange nicht abnehmen. Der Groll, der sich innerhalb der EU gegen die Immigranten ausbreitet, hat durchaus damit zu tun. Die Migrationspolitik der EU kombiniert zunehmend eine immer größere Arbeitsmobilität für die EU-Bürger innerhalb der EU-Grenzen und eine strategische Auswahl der nichteuropäischen Einwanderer, wobei bevorzugt wird, wer einen wirtschaftlichen Wert mitbringt. Somit hat die EU immer weniger von der belagerten Festung, mit der man uns ständig in den Ohren liegt, sondern immer mehr von einer „gated community“. Sie wirkt also wie eine geschlossene Gemeinschaft, wie ein Wohnkomplex, in dem sich die Reichsten – aus Angst vor Kriminalität und einem eventuellen Verlust an Wohlstand und kultureller Identität – verschanzen und vom Rest der Gesellschaft abtrennen. Mit dieser Vorgangsweise tut die EU nichts gegen die Reduzierung der Ungleichheiten in der Entwicklung, ganz im Gegenteil. Ebenso verschlimmert die EU die illegale Einwanderung, die sie selbst als ein Problem definiert hat, und billigt ein globalisiertes Apartheidsregime. (pl-m)

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