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Pavel Schreiber in seinem Handschuh-Museum, das er in Abertamy eröffnet hat

Besuch bei den letzten Sudetendeutschen

Trotz der Vertreibung am Ende des Zweiten Weltkriegs, lebt im Westen der Tschechischen Republik heute noch eine starke deutschsprachige Minderheit. Doch nach und nach schwindet ihre Kultur. Überraschenderweise haben die ansässigen Sudetendeutschen eine sehr versöhnliche Sicht auf das Zusammenleben mit den Tschechen in den letzten Jahrzehnten.

Veröffentlicht am 15 April 2013 um 12:16
Pavel Schreiber in seinem Handschuh-Museum, das er in Abertamy eröffnet hat

Frost in Abertamy. Eine dünne Eisschicht bedeckt die kleinen Seitenstraßen und schmutziger Schnee türmt sich auf dem Marktplatz der Stadt. Mittendrin fällt eine Szene der Verwüstung ins Auge: das zusammenfallende Hotel „Uran“. Fensterlos mit Backsteinen, die von den Mauern fallen. Zwei grauhaarige Männer spazieren am Gebäude vorbei. Sie sind die lebende Erinnerung eines anderen Abertamy. Früher gab es dreimal so viele Einwohner, zig Bäckereien und Läden, sowie gepflegte Herrenhäuser.

Gerhard Krakl, 73, und Pavel Schreiber, 79 Jahre, sind hier aufgewachsen und haben seit jeher nur Abertamy-Deutsch miteinander geredet, eine Mundart, die schon ihre Vorfahren vor Jahrhunderten gesprochen haben. Mit ihrer Generation wird nicht nur der lokale Dialekt aus Abertamys Straßen verschwinden, sondern auch die deutsche Kultur des Erzgebirges.

500 Jahre lang hat sie die unwirtliche Landschaft an der Grenze geprägt. Sie hat die Vertreibung überlebt, von der die große Mehrheit der Sudetendeutschen betroffen war. Heute aber beginnen die Verbliebenen ihrer Gemeinschaft damit, sich endgültig mit der lokalen tschechischen Bevölkerung zu vereinen.

Ein Handschuh-Museum für deutsche Kultur

„Gerhard und ich sind eines Tages in Abertamy spazieren gegangen, und wir haben uns gefragt, was nach unserem Tod übrig bleiben wird“, erinnert sich Pavel Schreiber. Sie wollten nicht, dass nur deutsch klingende Namen bleiben, oder ein paar Gräber, um die man sich auf den Friedhöfen kümmert. So kamen die beiden alten Freunde auf die Idee, ein Handschuh-Museum zu gründen, denn dank dieses Handwerks haben sie in Abertamy bleiben können.

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Von den rund drei Millionen Deutsch-Tschechen sind rund 150.000 von der Vertreibung am Ende des Kriegs verschont geblieben. Die meisten waren Arbeiter, ohne die die staatlichen Fabriken entlang der Grenze hätten dicht machen können. Auch einige Bauern hatten bleiben können, da das zerstörte Deutschland nicht in der Lage war, noch mehr Vertriebene aufzunehmen.

Bis Ende der Fünfzigerjahre wurden die internen Schreiben der Handschuh-Manufaktur von Abertamy in deutscher Sprache verfasst. Noch Anfang der Sechzigerjahre sprach die Hälfte der Grundschüler kein Tschechisch. Ihre Eltern konnten ihnen die Sprache nicht beibringen, da sie sie selbst nicht beherrschten. Zuhause wurde Deutsch gesprochen, und man konnte sich immer auf die eine oder andre Weise in der Fabrik, auf dem Amt oder beim Arzt verständlich machen. Man hörte den Bayerischen Rundfunk und verließ sich auf dessen Nachrichten und Wettervorhersagen. Bis Anfang der Neunzigerjahre war es keine Seltenheit, dass Verkäuferinnen mit ihren Kunden Deutsch redeten. Auch heute noch hört man gelegentlich ein „Grüß Gott“ über die Gartenzäune hinweg.

Die Kirche als Zufluchtsort

Auch die Kirchen und der katholische Glaube waren ein Zufluchtsort für die Deutschen, im Gegensatz zu den meisten neu hinzugezogenen Tschechen. Bis in die Sechzigerjahre waren die Gottesdienste von den Deutschen gut besucht. Doch allmählich wurden es immer weniger.

Die Deutschen des Erzgebirges lebten also weder so richtig in Böhmen, noch in Deutschland. Doch im Gegensatz zu dem, was man erwarten würde, hat sich ihre Situation nicht wesentlich geändert. Schon vor dem Krieg oder während der österreichischen Monarchie lebten die Menschen hier in ihren Bergen und scherten sich nicht darum, was in den Machtzentren geschah. Man verließ nur ausnahmsweise, in ganz dringenden Fällen, seinen Heimatort. Die meisten ihrer Volkslieder besingen gerade diese Einzigartigkeit ihres Charakters.

Zurück in die Zeit nach 1948. Stacheldrahtzäune beginnen die Grenzen zwischen Ost und West zu trennen. Die Zeit der Vertreibung ist vorbei. Es sieht alles danach aus, dass die Familie von Bertha Růžičková die Tschechoslowakei nicht wird verlassen können. Sie hat die Hälfte ihrer Nachbarn wegziehen sehen. Es bleibt nur noch eine kleine Minderheit in einem nun ethnisch homogenen Böhmen. „Alle sind weggegangen, nur wir allein sind geblieben. Wir waren das Zusammenleben gewöhnt, und mit einem Mal herrschte Stille“, sagt Bertha und erinnert sich, wie sie quasi über Nacht Teil einer Minderheit wurde. „Es ist ein schreckliches Gefühl in seiner eigenen Heimat ein Fremder zu sein. Nichts gehörte uns mehr.“

Zwischen Nostalgie und Schweigen

Doch die alteingesessenen Bewohner des Erzgebirges und die Neuankömmlinge aus dem Inneren des Landes bleiben sich nicht lange fremd. Es muss dazu gesagt werden, dass die Liebe, welche nationale Grenzen ignoriert, dazu einen beträchtlichen Teil beigetragen hat. „Mein Mann sprach Tschechisch und ich antwortete ihm auf Deutsch. Wir wussten zwar nicht genau, was der andere sagte, aber das war auch nicht nötig, wir brauchten keine Worte, um uns zu verstehen. Erst viel später habe ich von ihm Tschechisch gelernt“, erzählt Bertha Růžičková lachend.

Die Generation der heute Siebzig-, Achtzig- oder Neunzigjährigen hat sich nach und nach der neuen Gesellschaft angepasst. Sie entwickelten dieselbe Strategie, wie die meisten Tschechen während des kommunistischen Regimes: Kein Aufsehen erregen, sein Schicksal hinnehmen und sich ins Privatleben zurückziehen.

Man könnte meinen, dass sich eine Kultur des Schweigens bei den letzten Sudetendeutschen durchgesetzt hat, ganz im Gegensatz zu der so brennenden Nostalgie, welche von ihren Altersgenossen in den Vertriebenenverbänden gepflegt wird.

Bei der Volkszählung 2001 erklärte jeder siebte Einwohner von Abertamy, Deutscher zu sein. Die Kommune hätte theoretisch zweisprachige Schilder aufstellen können. Heute nicht mehr. In zehn Jahren ist die deutsche Bevölkerung von 200 auf 70 Einwohner gesunken.

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