Das Herz Europas

Die Krise hat den nationalen Egoismus der EU-Staaten vertieft. Die EU muss der irrationalen, selbstmörderischen Spaltung zwischen Nord- und Südländern ein Ende setzen und wieder den sozialen Zusammenhalt sowie die gegenseitige Abhängigkeit in den Vordergrund stellen, fordert eine spanische Philosophin.

Veröffentlicht am 18 April 2013 um 11:14

Die Vorgehensweise der Europäischen Union wird von den Bürgern aus verständlichen Gründen nicht geschätzt. So spricht man heute bereits von einer „Europäischen Disunion“, weil die Politiker in den einzelnen Ländern nur um die Stimmen der Wähler in ihrem Land kämpfen, ohne sich auch nur im Geringsten um die Übereinstimmung ihrer Ziele mit den Interessen der überstaatlichen Struktur zu kümmern, auf die wir heute so stolz sind.

Die Europäer haben nicht nur den Nationalstaat, sondern auch eine Gemeinschaft aus souveränen Staaten erfunden, die fähig ist, das Fundament zu einer kosmopolitischen Gesellschaft zu legen. Die Wirtschaftsunion setzt allerdings auch die Stärkung der politischen Union voraus, damit endlich ein Europa der Europäer entstehen kann, der Schlussstein des europäischen Projekts.

Die Krise hat uns gezeigt, dass dieses Ziel nicht umgesetzt werden kann, solang das Handeln der einzelnen Länder von nationalem Egoismus bestimmt ist. Zusammenarbeit ist unerlässlich, wenn Europa auf allen drei Ebenen – Bürger, Wirtschaft und Politik – als Union funktionieren soll. Derzeit gibt es keine wahre europäische Demokratie, die Länder schließen bilaterale Abkommen und wechseln ihre Gesinnung, wie es ihnen gerade passt, statt den Ambitionen der europäischen Bürger Rechnung zu tragen.

„Kindische Irrationalität”

Dieses Vorgehen ist selbstmörderisch. Nicht nur, weil es den Grundsätzen der Demokratie und der Moral widerspricht, Entscheidungen zu treffen, ohne die Interessen der davon Betroffenen zu berücksichtigen, sondern auch, weil es vernunftswidrig ist. Wir haben zu lang damit geprahlt, dass der Fortschritt der Menschheit der Weiterentwicklung der Vernunft in Europa zu verdanken ist, um jetzt in kindischer Irrationalität zu versinken.

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Denn wir wissen seit Langem, dass Vernunft nicht darin besteht, in allen Fällen den größten egoistischen Vorteil zu suchen, sondern darin, einen sozialen Zusammenhalt anzustreben, der die Zusammenarbeit ermöglicht. Die ersten Anarchisten kamen bereits zu dem Schluss, dass gegenseitige Hilfe das Gemeinwohl fördert, nicht erbarmungsloser Wettbewerb, und dass es intelligenter ist, sich Verbündete statt Gegner, Freunde statt Feinde zu machen.

Der vernunftbegabte Mensch ist nicht dumm egoistisch, sondern kooperativ. Dem Verhaltensforscher Michael Tomasello zufolge werden wir „nie zwei Schimpansen sehen, die zusammen einen Baumstamm heben“. Der Fortschritt der Menschen beruht auf ihrer Fähigkeit zusammenzuarbeiten. Menschen, die kooperieren, gelingt es nicht nur, den Baumstamm zu heben, sondern auch im Hinblick auf künftige gemeinsam zu bewältigende Aufgaben freundschaftliche Bande zu knüpfen.

Zusammenarbeit ist der Kern Europas

Zusammenarbeit ist der Kern eines vereinigten Europas. Deshalb ist es enttäuschend zu sehen, wie Europa, das die Demokratie erfunden hat, das die menschliche Würde zur Voraussetzung des Zusammenlebens erhoben hat, das nicht nur die wissenschaftliche, sondern auch die moralische Vernunft gefördert hat und das den Sozialstaat und die Möglichkeit einer supranationalen Gemeinschaft entdeckt hat, seine eigene Identität ohne Rücksicht auf die ihm zugrunde liegenden Ideale mit seinem hartnäckigen selbstmörderischen Kurs verrät.

Die Geschehnisse in Zypern, die eher das Ergebnis egoistischer und stümperhafter Improvisation sind als das Resultat intelligenter Sorge um das Wohl der Bevölkerung, sowie die Behandlung der südeuropäischen Länder haben zu einer tiefe Aversion gegen die vermeintlichen Partner aus dem Norden geführt. Von dieser Animosität profitieren populistische und totalitäre Bewegungen aller Farben, die sich in einer gerechten Gesellschaft nie entwickeln könnten.

Warum fällt es den besser Gestellten so schwer zu verstehen, dass die Länder und die Menschen voneinander abhängen, dass der Gewinn des einen nicht der Verlust des anderen sein muss? Wenn die südeuropäischen Länder weiterhin so behandelt werden, wie es derzeit der Fall ist, wird nicht nur der Süden verlieren, sondern auch der Norden.

Selbst ein Teufelsvolk wäre für den Rechtsstaat

Kant meinte, sogar ein Volk aus Teufeln ohne moralischen Sinn würde einen Rechtsstaat einem Staat vorziehen, in dem jeder gegen jeden Krieg führt. Er fügte jedoch hinzu, „wenn sie nur Verstand haben“. Und ich würde am Rand dazu vermerken: authentische menschliche Intelligenz, wie sie sich im Ultimatumspiel zeigt.

In diesem Spiel wird einem Teilnehmer Geld versprochen, das er mit einem zweiten Spieler teilen muss. Jener kann den ihm angebotenen Teil annehmen oder ablehnen. Nimmt er an, gewinnen beide. Lehnt er ab, gewinnt niemand. Wenn es wahr ist, dass der rational handelnde Mensch versucht, seinen Gewinn zu maximieren, dann muss der zweite Teilnehmer alle Angebote annehmen, die über Null liegen, während der erste Teilnehmer ihm ein möglichst niedriges Angebot vorlegen muss. In Wirklichkeit neigen die Spieler jedoch dazu, Angebote unter 30 Prozent nicht anzunehmen, weil sie keinen beschämend niedrigen Betrag erhalten wollen. Aus diesem Grund neigen die Anbietenden wiederum dazu, 40 bis 50 Prozent der Summe zu offerieren, um selbst auch gewinnen zu können. Die einzigen, die in einem ihnen angepassten Ultimatumspiel eine wahre Gewinnmaximierung anstreben, sind Schimpansen, nicht Menschen.

Die Demütigung der schlechter Gestellten ist ungeschickt und unvernünftig. Im Fall Europas wäre es intelligent, eine wahre Demokratie zu schaffen, die auf sozialer Kohäsion und gegenseitiger Hilfe beruht, und so die eigene Identität wieder zurückzugewinnen.

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