„Die 95 Thesen Martin Luthers", Öl auf Leinwand von Ferdinand Pauwels (1872).

Europa braucht einen Martin Luther

Die EU wird zur verdorbenen Kirche, in der Deutschland mit dogmatischer Orthodoxie im Wirtschaftsbereich den Ton angibt. Die Politik muss durch ein protestantisches Schisma von der Basis aus die Kontrolle zurückerlangen, fordert Repubblica-Leitartiklerin Barbara Spinelli.

Veröffentlicht am 17 Mai 2013 um 15:23
„Die 95 Thesen Martin Luthers", Öl auf Leinwand von Ferdinand Pauwels (1872).

So etwas geschieht nur in solch einem Europa, das auf einen Schiffbruch zusteuert, nicht aus wirtschaftlichen Gründen, sondern wegen der quälenden Dummheit seiner Politik: Es ist ein Skandal, dass der deutsche Verfassungsgerichtshof entscheidend für jeden Unionsbürger geworden ist, während der Verfassungsgerichtshof in Portugal gar keine Rolle spielt. Jens Weidmann, Präsident der deutschen Bundesbank, bezichtigt [Mario] Draghi, seine Kompetenzen zu überschreiten, wenn dieser den Euro mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln retten will, und erklärt einer Währung den Krieg, die gemeinsame Währung genannt wird, weil sie nicht Berlin allein gehört.

Die Kompetenzen der EZB sind klar, obwohl Weidmann ihre Verfassungsmäßigkeit bestreitet: Wahrung der Preisstabilität (Artikel 127 des Lissabon-Vertrags), dies jedoch unter Achtung von Artikel 3, der eine nachhaltige Entwicklung Europas, Vollbeschäftigung und Verbesserung der Umweltqualität, den Kampf gegen die soziale Ausgrenzung, soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz, wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt sowie Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten vorsieht.

Weniger Sparen, mehr Wachstum

In etwas mehr als einem Jahr, im Mai 2014, wählen wir ein neues europäisches Parlament - besonders für Italien ist das Datum von anderem Belang als sonst, weil das Europa der Troika (EZB, Kommission, IWF) unser Leben belastet wie nie zuvor. Weil seine Anti-Krisen-Medizin überall heftig kritisiert wird, letztlich sogar durch den Arzt selbst, der sie verschrieben hat: Vielleicht werden die Deutschen bei den Wahlen am 22. September eine Anti-Euro-Partei wählen, die erst im vergangenen Februar gegründete „Alternative für Deutschland“. Die Parteien müssen mit den ständigen Lügen aufhören, Angela Merkel quasi „umbiegen“ zu können. Insbesondere in Italien müssen sie ihren Verrat an Wählern und Bürgern endlich beenden, denn letztlich können sie, wenn sie es denn wagen, erstmals den Kommissionspräsidenten bestimmen - so sehen es die Verträge vor.

Lügen deshalb, weil keine Regierung in der Lage ist, Berlin mit den bislang vorgebrachten, ausschließlich wirtschaftlichen Argumenten zum Umdenken zu bringen: etwas weniger Sparpolitik, ein wenig Wachstum, ein paar Steuererlässe. In seiner festen Überzeugung, dass einzig die Märkte uns lenken, wird Berlin nur dann beeinflussbar sein, wenn die Politik gegenüber in Dogmen ausgearteten Wirtschaftsthesen die Oberhand gewinnt. Wenn Regierungen, Parteien und Bürger klar ihre Ideen über ein Europa äußern, das ein anderes Europa werden muss und nicht das heutige Europa bleiben darf, mit seinen beschränkten Ressourcen und den ans 19. Jahrhundert gemahnenden Machtverhältnissen, in die es verfallen ist.

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Das Wirtschafts-Papsttum muss gestürzt werden

Die EU erinnert an eine verdorbene, in Auflösung begriffene Kirche, die ein protestantisches Schisma braucht: eine Reform der Glaubensinhalte, der Konzepte. Einen Plan mit genau formulierten Punkten (dereinst waren dies Martin Luthers 95 Thesen). Das wirtschaftliche „Papsttum“ muss gestürzt werden, indem man ihm mit einem politischen Glauben entgegentritt. Nur so kann der vorherrschende Religion ein Ende gemacht werden, und Berlin wird sich entscheiden müssen: ein deutsches Europa oder ein europäisches Deutschland, Hegemonie oder Gleichberechtigung zwischen den Mitgliedsstaaten. Es musste immer solche Entscheidungen treffen, denn Europa darf nicht den Ökonomen überlassen werden, wie Adenauer 1958 meinte.

Die deutsche Orthodoxie existiert nun schon lange, sie setzte sich nach dem Krieg durch und nennt sich Ordoliberalismus: Die Märkte können ein Ungleichgewicht problemlos selbst ohne Einmischung des Staates ausgleichen, weil sie über unveränderliche Rationalität verfügen. Die Ideologie eines „aufgeräumten Hauses“ sozusagen: Jede Nation steht selbst für ihre Schuld ein. Solidarität und internationale Zusammenarbeit kommen erst später, als Belohnung, wenn jeder brav seine Hausaufgaben gemacht hat. Wie in England holt man in täuschender Weise auch noch die Demokratie ins Treffen: Die teilweise Abtretung eigener Souveränität höhlt die nationalen Parlamente aus. Daher soll sich der deutsche Verfassungsgerichtshof zu sämtlichen europäischen Aktionen äußern.

Es ist Täuschung in der Hinsicht, dass in Europa nicht alle Demokratien gleich sind: einige sind sakrosankt, einige gelten als verdammt. Am 5. April dieses Jahres lehnte der portugiesische Verfassungsgerichtshof vier Sparmaßnahmen der Troika ab (Kürzungen der Beamtengehälter und der Pensionen), weil sie gegen den Gleichheitsgrundsatz verstoßen. Die zwei Tage danach von der EU-Kommission erlassene Pressemitteilung ignorierte das gesamte Urteil völlig, begrüßt, dass Lissabon die vereinten Maßnahmen fortsetzt, und verweigert jede Art von Neuverhandlung, denn es sei von grundlegender Bedeutung, dass die wichtigsten politischen Institutionen Portugals die Wirtschaftsmaßnahmen weiterhin unterstützen. Diese unterschiedliche Behandlung der deutschen und portugiesischen Verfassungsrichter ist so unredlich, dass Europa in den Köpfen seiner Bürger wohl kaum eine Idealvorstellung bleiben kann.

Kein klarer Wille mehr

Einige sind der Ansicht, dass dies sehr wohl möglich ist, wenn die Vormachtstellung Deutschlands etwas weniger dominant wird, aber doch Vormachtstellung bleibt: George Soros forderte dies im September 2012 in der New York Review of Books, mit soliden Argumenten. Die polnische Regierung fordert es ebenfalls. In Deutschland fordern es all jene, die weniger eine Vormachtstellung als vielmehr eine nicht sehr rühmliche Selbstverherrlichung fürchten.

Wenn Deutschland ein supranationales Europa wollte und dies sogar im Grundgesetz verankerte, dann aus dem Grund, dass die Ordoliberalen (in der Bundesbank und in den Akademien bzw. Universitäten) ständig aus dem Sattel geworfen wurden. Adenauer legte die EWG und den deutsch-französischen Pakt in die Hände eines Wirtschaftsministers (Ludwig Erhard), der alles daran setzte, um sie zu beseitigen, die EWG der „kleineuropäischen Inzucht“ und des „volkswirtschaftlichen Unfugs“ bezichtigte. Er versuchte, gemeinsam mit den Briten die römischen Verträge zu sabotieren, er bevorzugte definitiv eine Freihandelszone. Doch weder Adenauer noch der erste Kommissionspräsident [Walter] Hallstein schenkte ihm Gehör, dank ihnen siegte die politische Vernunft. Beim Euro war die Situation dann genauso: Auf einer Linie mit Paris stellte Kohl die Politik in den Vordergrund und überging Mainstream-Ökonomen und die Bundesbank. Heute stehen wir an einem ähnlichen Scheideweg, doch wechseln unsere Politiker chamäleonartig die Meinung, haben keinen klaren Willen mehr. Die Deutschen sind durch die Krise desillusioniert. Der Ordoliberalismus wird politisiert, man übt gleichsam späte Rache.

Politik als bewusste Entscheidung

Es bleibt also nur ein Schisma: der Aufbau eines neuen, anderen Europas, mehr von der Basis als von Regierungsebene aus. Ein Projekt gibt bereits, verfasst vom Ökonomen Alfonso Iozzo: Laut Föderalisten könnte es eine Europäische Bürgerinitiative werden (Artikel 11 des Lissabon-Vertrags), die der Kommission vorgelegt werden kann. Der Grundgedanke: ausreichende Ressourcen für Wachstum statt Staaten, die zu Sparmaßnahmen gezwungen sind. Ein Wachstum, das nicht nur weniger kostspielig wäre, weil es gemeinsam realisiert wird, sondern auch sozial gerechter und umweltbewusster, weil von der Finanztransaktionssteuer, der Carbon Tax (CO2-Steuer) und einer europäischen Mehrwertsteuer getragen. Die ersten beiden Steuern brächten Einnahmen im Wert von 80-90 Milliarden Euro, was eine Einhaltung der seinerzeit vereinbarten 1,27%-Schwelle gewährleisten würde. Durch Einbindung der Europäischen Investitionsbank und Eurobonds ergäbe einen 300- bis 500-Milliarden-Plan und brächte 20 Millionen neue Arbeitsplätze für die Zukunft (Forschung, Energie).

Um all das zu realisieren, muss allerdings die Politik erneut in den Vordergrund rücken, und zwar nicht, wie es der Wirtschaftsexperte Jean-Paul Fitoussi sagt, als ein Komplex „automatischer“ Regeln, sondern als [bewusste] Entscheidung. Es braucht jene Selbstsubversion, die auch Luther an den Tag legte, als er seine 95 Thesen schrieb und sagte: „Hier stehe ich. Ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen.“

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