Europa macht es US-Schnüfflern leicht

Die Enthüllungen über das Spionageprogramm der amerikanischen Geheimdienste ist nur die Spitze des Eisbergs. Die amerikanischen Behörden durchschnüffeln die Privatsphäre europäischer Bürger in vielerlei Hinsicht. Und die Regierungen der Union stehen dem quasi machtlos gegenüber.

Veröffentlicht am 11 Juni 2013 um 15:38

Am 10. Juni wiederholte die EU-Kommission, sie sei über Prism, das Spionageprogramm der amerikanischen Sicherheitsbehörde NSA „besorgt”. Mit dem Programm verschafften sich die Amerikaner Zugriff auf Daten ausländischer Bürger, unter anderem aus Europa.

Die EU-Justizkommissarin Viviane Reding gab sich ungewöhnlich diskret und zeigte ausnahmsweise nicht mit dem Finger auf die Vereinigten Staaten, mit denen sie, wie ihr Sprecher erklärte, „systematisch“ die Rechte der EU-Bürger erörtere. Die Kommissarin nahm eher die EU-Länder ins Visier, welche am vergangenen 6. Juni in Luxemburg ihren Entwurf für ein neues EU-Datenschutzrecht auf die lange Bank geschoben hatten.

Seit 18 Monaten wird diskutiert, 25 Treffen und 3000 Änderungsanträge hat es gegeben: Die Datenschutz-Grundverordnung spaltet die Union. Die siebenundzwanzig EU-Justizminister hatten sich nur ein paar Stunden vor Bekanntwerden der Enthüllungen des ehemaligen CIA-Mitarbeiters Edward Snowden durch die britische Tageszeitung The Guardian getroffen. Ein Ereignis, dass es ihnen vielleicht ermöglicht hätte, ihre auseinanderdriftenden Standpunkte anzunähern. London und Den Haag finden den Reding-Plan zu sperrig für Unternehmen. Paris fordert, dass man sich mehr mit den sozialen Netzwerken auseinandersetzen müsse und für Berlin ist der Text ohnehin viel zu vage...

Grundrechte wurden mit Füßen getreten

Konfrontiert mit den Prism-Enthüllungen sind sich die europäischen Hauptstädte zumindest in ihrer geteilten „Besorgnis“ einig. Ein Begriff, der von der EU-Kommission bereits im Jahr 2000 benutzt wurde, als bekannt wurde, dass das von den angelsächsischen Staaten betriebene Spionagenetz „Echelon“ — ein weltweites System zur Überwachung von Satelliten, Telefongesprächen und Internetdaten — auch in Europa tätig sei. Die NSA betrieb dies Überwachungssystem, um an wirtschaftliche, kommerzielle, technologische und politische Informationen heranzukommen. Die Rechtsvorschriften der EU-Mitgliedsstaaten wurden mit Füßen getreten, ebenso die Grundrechte der Bürger.

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London hatte damals seine privilegierten Beziehungen zu Washington genutzt, um seine europäischen Konkurrenten auszuspionieren. Beide Hauptstädte dementierten. Die europäischen Staats- und Regierungschefs zogen es vor, sogar zu vergessen, dass der Verantwortliche für die Verschlüsselung von EU-Interna erklärt hatte, „sehr gute Kontakte zur NSA zu pflegen“, welche somit freien Zugriff auf vermeintlich vertrauliche Dokumente der EU besaß. Der Mann „widerrief“ danach in einem Brief an seinen Vorgesetzten seine Äußerungen.

Europäische Daten seit 9/11

Das kamen die Anschläge vom 11. September 2001 — die auch Echelon nicht verhindern konnte. Seither haben die Europäer, manchmal freiwillig, manchmal unter Druck, den amerikanischen Behörden im Namen des Kampfes gegen den Terrorismus riesige Datenmengen übermittelt. Im Jahr 2006 mussten die Europäer entdecken, dass Washington sich heimlichen Zugriff auf die Daten des in Belgien ansässigen Unternehmens Swift verschafft hatte, ein Unternehmen, das weltweit die Finanzströme zwischen Banken sichert.

Nachdem der erste Schock verdaut war, begannen schwierige Verhandlungen, die 2010 mit der Unterzeichnung eines Abkommens endeten. Die Europäer erreichten, dass nun zunächst über die Relevanz der amerikanischen Anfragen geurteilt werden konnte. Ein Vertreter der Siebenundzwanzig wurde in die amerikanische Hauptstadt geschickt, um Prozeduren zu kontrollieren, über eventuelle Vorfälle zu berichten, einen Halbjahresbericht vorzulegen, usw.

Die Sache mit der Flugdaten-Vorratsspeicherung PNR, Passenger Name Record) war nicht minder kompliziert. Es brauchte neunjährige Verhandlungen und vier Textentwürfe, um endlich, im April 2012, zu einem Konsens zu finden.

Die Europäer, die vor allem bilaterale Abkommen vermeiden wollten, welche ihnen kaum Sicherheit boten, akzeptierten am Ende, den amerikanischen Behörden jeweils 19 Datensätze über jeden EU-Passagier zu übermitteln, der in oder über die USA fliegt. Washington hatte davon die Lockerung der Einreisebedingungen in die USA abhängig gemacht. Die gespeicherten Daten sollen nach sechs Monaten anonymisiert und zunächst fünf Jahre in einer „aktiven“, danach zehn Jahre in einer „ruhenden“ Datenbank gespeichert werden.

Amerikanisches gegen europäisches Recht

Ein Hauptproblem wurde allerdings von den Europäern nicht gelöst: Drei Viertel aller Unternehmen, welche weltweit für die Airlines die Reservierungsdaten speichern, sind in den USA ansässig. Sie unterliegen somit amerikanischem Recht. Im Problemfall würde europäisches Recht also gar nicht greifen. Wie im Fall Prism, muss die Union erkennen, dass sie nicht nur systematisch zu spät dran ist, sondern auch, wie sehr ihre Handlungsfähigkeit eingeschränkt ist.

Derzeit verhandelt die Union mit den USA, um den EU-Bürgern die Möglichkeit zu geben, von amerikanischen Firmen gespeicherte falsche Daten per Gerichtsbeschluss korrigieren zu lassen. Ein Recht, welches den in Europa lebenden US-Bürgern bereits eingeräumt wird.

Die liberale EU-Abgeordnete Sophie in't Veld hofft, dass die Enthüllungen über die Praktiken der NSA den Europäern „das Bewusstsein öffnen“ und sie zwingen werden, sich in Zukunft unnachgiebiger zu zeigen. Ein hoher Beamter in Brüssel sieht das anders: „Der Skandal bestätigt einmal mehr, dass die USA im Anti-Terror-Kampf führend sind. Kaum ein EU-Land wird aufbegehren.“ Dieselbe Quelle „hegt auch Zweifel“, dass Großbritannien oder andere Länder von den Prism-Informationen profitiert hätten. Bundeskanzlerin Angela Merkel wird vermutlich die erste sein, die das Thema mit Barack Obama direkt anschneiden wird. Der amerikanische Präsident wird am 18. und 19. Juni in Berlin erwartet.

Ein umso heikleres Thema, da die Deutschen sehr viel Wert auf den Schutz der Privatsphäre legen und den Enthüllungen des Guardian zufolge, das Land vom Datenklau besonders arg betroffen sei. Für einen Experten aus Brüssel legt das die Vermutung nah, dass die amerikanischen Behörden gleichzeitig Industriespionage betrieben — was Washington ja schon zu Zeiten von Echelon bestritt. Am Montag erklärte ein Sprecher des deutschen Justizministeriums, dass man „die mögliche Beeinträchtigung von Rechten deutscher Staatsangehöriger prüfen werde“.

Aus Österreichs Sicht

Europa kollaboriert schon lange mit der NSA

„Eine gewisse Ironie“ sieht Der Standard in der Aufforderung mehrerer EU-Abgeordneten am 10. Juni an das Europäische Parlament, es solle auf die Enthüllungen zur Überwachung der elektronischen Kommunikation durch die amerikanische NSA reagieren.

Die Wiener Tageszeitung erinnert daran, dass dies nichts Neues ist: Schon 2001 bildete das Parlament einen Ausschuss, der sich mit dem internationalen Spionagesystem Echelon beschäftigen sollte:

Sechs Tage vor den 9/11-Anschlägen stellte dieser Ausschuss fest, „dass es keinen Zweifel mehr an der Existenz eines globalen Kommunikationsabhörsystems geben kann, das von den USA, Großbritannien, Australien, Neuseeland und Kanada betrieben wird“.

Menschenrechts- und Datenschutzorganisationen hatten damals schon davor gewarnt, dass das System technisch in der Lage sei, die „elektronische Kommunikation auf dem Planeten zu protokollieren“. Doch die EU hatte entschieden, bei einer ausschließlich nachrichtendienstlichen Nutzung sei dies kein Verstoß gegen EU-Recht.

Der Standard erinnert daran, dass manche Länder – darunter auch Deutschland – an der Einrichtung von Echelon mitarbeiteten. Österreich gehörte zwar nicht zum Echelon-System, kann aber durch Abkommen mit der NSA über den Austausch von Daten indirekt dazu beigetragen haben. Im Gegensatz zu anderen EU-Ländern ist „das staatliche Ausspionieren von Kommunikationsdaten“ in Österreich mit Auflagen erlaubt.

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