Auf alle Fälle Lohngefälle

Sowohl links als auch rechts ist man sich zunehmend einig, dass das steigende Gefälle zwischen Vorstandsbezügen und dem Einkommen von Normalverdienern die Mittelklasse verdrängt und unsere Demokratien untergräbt, schreibt Times-Redakteur Anatole Kaletsky.

Veröffentlicht am 15 November 2010 um 16:41

Was stellt in den nächsten Jahren die größte Bedrohung für unseren Lebensstil und für die Demokratie dar? Eine Double-Dip-Rezession, die Last der Staatsschulden oder der Krieg in Afghanistan? Nichts von alledem, meinen zwei der scharfsinnigsten Denker, ein linker und ein rechter, die in einem Punkt ausdrücklich übereinstimmen: Die soziale Ungleichheit, vor allem das immer größer werdende Gefälle zwischen den ganz Reichen und allen anderen, bedroht den gesellschaftlichen Konsens und die politische Stabilität – nicht nur in Großbritannien, sondern in ganz Europa und auch in Amerika, und zwar in einem seit der furchtbaren Zeit vor den beiden Weltkriegen nie erlebten Ausmaß.

Ich hörte kürzlich, wie der ehemalige Tory-Minister Michael Portillo die Demokratie unheilvoll als ein „unerwiesenes Experiment“ beschrieb, das die „ihren Lauf nehmende Katastrophe“ der sozialen Ungleichheit vielleicht nicht überleben wird. Ich habe auch Will Huttons schlagkräftiges neues Buch „Them and Us“ gelesen, in dem er die Auffassung vertritt, die Grundursache der Finanzkrise sei die Missachtung der „Fairness“ als Leitprinzip der Finanzmarktregulierung, des Wirtschaftsmanagements und der Sozialpolitik gewesen.

Ungleichheit nicht nur moralisch abstoßend, sondern wirtschaftlich schädlich

Portillo gestand seine bittere Ernüchterung angesichts des habgierigen, unverantwortlichen Verhaltens der begüterten Elite der britischen Finanz- und Managementbranche ein. Die Geschäftsführer mittelständischer Finanzunternehmen beziehen Einkommen von durchschnittlich zwei Millionen britischen Pfund und bewilligen sich selbst weiterhin Gehaltserhöhungen, während gewöhnliche Arbeiter gleichzeitig mit Lohn- und Rentenkürzungen rechnen müssen. Derartige Unterschiede könnten sich als unvereinbar mit der Demokratie erweisen, so Portillo. Wie sollen die Leute die Demokratie als „fairen Deal“ akzeptieren, wenn sie nur alle fünf Jahre für eine neue Regierung stimmen dürfen, während ihre Chefs, die 100 Mal mehr verdienen, das Recht haben, sich jedes Jahr eine neue Gehaltserhöhung zu bewilligen?

Hutton deutet an, dass extreme Ungleichheit nicht nur moralisch abstoßend ist, sondern der Gesellschaft auch enorme wirtschaftliche Verluste aufbürdet. Er glaubt, dass sie ganz und gar nicht die Vermögensbildung und Innovation fördert, sondern das Unternehmertum untergräbt, indem sie äußerst hohe Vergütungen für Nullsummenspiele bietet, die einfach nur das existierende Vermögen durcheinandermischen. Ist die Finanzbranche so absurd lukrativ wie heute in Amerika und Großbritannien, werden Unternehmungsgeist und Talent unweigerlich von einer echten neuen Vermögensbildung abgelenkt.

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81 Mal den Lohn gewöhnlicher Angestellter

Und allen, die behaupten, riesige Lohngefälle folgten ganz natürlich auf das Bedürfnis, unternehmerische Leistungen zu begründen, insbesondere in der Finanzbranche, hält Hutton eine frappierende Antwort entgegen: J.P. Morgan, wohl der erfolgreichste Banker aller Zeiten, „hatte festgesetzt, dass seine Führungskräfte nicht mehr verdienen durften als den 20-fachen Lohn der Arbeiter an den niedrigsten Posten in seinen Unternehmen“. Er hätte demnach große Zweifel daran gehabt, jemandem 81 Mal den Lohn gewöhnlicher Arbeiter zu zahlen – die in Großbritannien durchschnittliche Differenz zwischen Geschäftsführern und gewöhnlichen Angestellten – und erst recht nicht das 300-fache, das heute in den USA üblich ist.

Der Himmel weiß, was Morgan von einer anderen schockierenden Statistik gehalten hätte, die von Portillo zitiert wird: Die Ungleichheit ist heute so extrem, dass die 74 reichsten Bürger Amerikas mehr Einkommen verzeichnen als die ärmsten 19 Millionen zusammen. Doch hier gelangen wir zu einem Paradox, das ebenso auffallend ist wie die Zunahme der Ungleichheit selbst: In der ganzen Welt hat die Politik in den letzten zehn Jahren beileibe nicht mehr Gleichheit und mehr Umverteilung angestrebt, sondern sich vielmehr nach rechts verlagert.

Den wahren Preis zahlt die Mittelschicht

Finanzkrise und Koalitionsregierung scheinen alles andere als eine neue Ära der „Fairness“ eingeleitet und Großbritannien stattdessen auf den Gegenkurs getrieben zu haben, wie an der starken Erholung der Bonuszahlungen und an den regressiven Kürzungen ersichtlich ist. Warum geht die Politik gegen umverteilende Strategien an, wenn doch die allgemeine Besorgnis bezüglich der sozialen Ungleichheit eskaliert?

Vielleicht ist der Schlüssel bei den sozialen Schichten zu suchen, die der Ungleichheit am stärksten ausgesetzt sind. Geht das Einkommen der Ärmeren zurück, kann die Ungleichheit wirklich die soziale Stabilität gefährden und die Politik zu einem Linksschwung zwingen. Doch wenn der aufkeimende Wohlstand der Reichen die Hauptursache für die Ungleichheit ist, stecken nicht mehr die Armen, sondern vielmehr die Mittelschicht den Schlag ein. Letztere wird durch steigende Preise aus begehrten Wohngegenden vertrieben und kann sich Annehmlichkeiten, die für ihre Eltern noch selbstverständlich waren, nicht mehr leisten. Das reicht vom Besuch guter Schulen bis zum Ausgehen in bessere Restaurants.

Der gefährliche Unmut der Mitte

Diese Art von Ungleichheit führt zum Unmut gegen die Umverteilungspolitik, welche auf Kosten der Mittelschicht hauptsächlich die Armen begünstigt. Und genau das ist zur Zeit die Situation in Großbritannien und in den USA. Der Widerstand der Bevölkerung gegen die Umverteilungspolitik in Großbritannien wird sich wahrscheinlich intensivieren, wenn die Reformen der Koalitionsregierung – Abschaffung des Kindergelds, Verdreifachung der Studiengebühren, Gehalts- und Rentenkürzungen im öffentlichen Dienst – anfangen, den Lebensstandard der Mittelschicht deutlich zu beeinträchtigen.

Doch wenn die britische Mittelschicht noch aufgebrachter gegen die Umverteilung wird, was ist dann die Antwort auf die immer deutlicher werdende Ungleichheit in der britischen Gesellschaft? Ich komme auf nichts Besseres als erneut auf Portillos Kommentar in Spanien: „Diese Ungleichheit ist eine Katastrophe, die ihren Lauf nimmt, aber wir haben auf ihren Lauf nehmende Katastrophen nicht immer eine Antwort.“

Übersetzung von Patricia Lux-Martel

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