Nachrichten Kroatiens EU-Beitritt (2/6)
Entlang der Sajmišna Cesta-Straße in Zagreb, Juni 2013.

Jeder ist sich selbst der nächste

Der EU-Beitritt Kroatiens entfacht, vor allem in Deutschland und Österreich, die Furcht vor einem Ansturm von kroatischen Arbeitern. Das Klischee des Osteuropäers, der dem Westeuropäer den Arbeitsplatz wegnimmt, hat noch lange Tage vor sich.

Veröffentlicht am 25 Juni 2013 um 10:55
Eloisa d'Orsi/Presseurop  | Entlang der Sajmišna Cesta-Straße in Zagreb, Juni 2013.

Im Örtchen Hohenthurn in Kärnten (Österreich), unweit der italienischen Grenze, soll demnächst ein riesiges Bordell gebaut werden. Die Investoren haben angekündigt, dass dort 140 Prostituierte arbeiten sollen. Für das 800-Seelen-Dorf bedeutet das eine Bevölkerungsexplosion, nicht allein wegen der „Huren“, sondern wegen der anderen (meist ausländischen) Arbeitskräfte, deren Job darin besteht, den Prostituierten dabei zu helfen, Tag und Nacht unter besten Bedingungen ihrem Gewerbe nachgehen zu können. Es wird ein Ansturm auf die rund 40 Posten bei Behörden und Dienstleistungsunternehmen der Region erwartet.

Mehr als 7 Millionen Euro haben die anonymen Investoren aus der Schweiz und Deutschland in das Projekt gesteckt. Sie wollen von der nahe gelegenen italienischen Grenze profitieren. In Italien ist Prostitution verboten, im Gegensatz zu Österreich, wo Bordelle legalisiert wurden und die Damen des Gewerbes Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zahlen und selbst von der Polizei beschützt werden.

Wie Sie sehen, sind alle Mittel recht, um in der Europäischen Union neue Arbeitsplätze zu schaffen — auch diese neu tolerierten Berufe werden von der Arbeitsmarktstatistik erfasst werden. Ohne auch nur einen Hauch von Ironie, können wir sagen, dass dank dieses neuen Bordells die Quote der jungen Arbeitslosen unter 24 deutlich sinken wird.

Hartnäckige Klischees

Wie wir alle wissen, bereitet die Jugendarbeitslosigkeit den europäischen Politikern ernsthafte Sorgen: „Wenn die jungen Menschen keinen Job haben, werden sie den Glauben an die Chance verlieren, welche die Europäische Union darstellt. Auch die Bedeutung der europäischen Integration wird ihnen gleich sein. Ohne glückliche Jugend, keine europäische Zukunft“, sagen sie. Alle sind überzeugt, dass mit der Eröffnung des Bordells hauptsächlich osteuropäische Sexarbeiterinnen ins Land kommen werden — aus jenem berühmt-berüchtigten Teil Europas, der bis 1989 im Dunkel des Kommunismus harrte und nun Mitglied der Europäischen Union geworden ist.

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Die Jugendarbeitslosigkeit hat in Europa ein Rekordniveau erreicht: In Griechenland sind 60 Prozent der jungen Leute zwischen 14 und 24 ohne Job, in Spanien 56 Prozent und Italien fast 38 Prozent. Unglaublich aber wahr. Die Fürsprecher der Europäischen Union beteuern lauthals, dass Mobilität die Grundvoraussetzung für eine Erholung des Arbeitsmarkts sei. Mobilität, sagen sie, muss gefördert, Ängste und Vorurteile überwunden werden. Europa sei ein riesiger Markt, der durchgelüftet gehört; juristische und mentale Hürden müssen weg. Wenn eine 24-Jährige auswandert, heißt das nicht gleich, dass sie sich prostituieren will. Doch die Klischees der Nach-Wende-Zeit halten sich hartnäckig und die Prostituierten aus Osteuropa sind die begehrtesten.

Hinter diesem Klischee (komischerweise stellt sich bei Griechinnen, Spanierinnen oder Italienerinnen die Frage nicht) versteckt sich ein weiteres: Ein Zuwanderer aus Osteuropa nimmt einem Westeuropäer den Job weg. Dabei besagen die Statistiken etwas anderes: Im Zeitraum 2011-12 ist die Zahl der italienischen Zuwanderer in Deutschland um 40 Prozent gestiegen. 12.000 Italiener sind im vergangenen Jahr nach Deutschland gegangen.

Keine einheitliche Sozialpolitik

Eine römische Wochenzeitung veröffentlichte jüngst eine Reportage über ein junges verheiratetes Paar, das alle seine Ersparnisse in eine Münchner Wohnung investiert hat, damit die junge Frau ihr erstes Kind in Deutschland zur Welt bringt. Aus einem einfachen Grund: In Deutschland gibt es Kindergeld für alle, während es in Italien quasi keinerlei soziale Hilfen gibt.

Es gibt in Europa keine einheitliche Sozialpolitik, keine einheitlichen Regeln für den Arbeitsmarkt. Jedes Land hat seine eigenen Bestimmungen, weshalb jedes Zuwanderungsphänomen von den besser gestellten Ländern als eine Art Angriff gesehen wird. Die Mobilität der Prostituierten ist gewährleistet, was aber kein von der Europäischen Union geschaffenes Problem ist. Es ist dasselbe Problem seit Menschengedenken: eine Folge unserer unsicheren und heuchlerischen Zivilisation.

Wie wir wissen, wollen Deutschland und Österreich von ihrem Recht auf temporäre Einschränkung der Freizügigkeit Gebrauch machen, um den Zustrom von kroatischen Arbeitnehmern zu begrenzen — und den heimischen Arbeitsmarkt zu entlasten. Im vergangenen Jahr musste Deutschland — die einzige Lokomotive Europas ­— eine Zuwanderung von einer Million Menschen verkraften. Die meisten von ihnen kamen aus den anderen EU-Ländern, von Portugal bis Polen. Kroatische Arbeitnehmer könnten die Last noch vergrößern, weshalb Deutschland und Österreich die Zuwanderung aus dem Land auch sorgfältig im Auge behalten und beschränken werden.

„Die Politik ist eine Hure”

Ähnlich denkt auch der Präsident der italienischen Region Venetien, Luca Zaia. Er hat einen Brief an den kroatischen Ministerpräsidenten [Zoran Milanović] geschrieben, damit Italien, im Einvernehmen mit Brüssel, Maßnahmen ergreift, um den Zustrom aus dem neuen EU-Mitgliedsstaat Kroatien in Schranken zu halten.

Zaia begründet das damit, dass in Kroatien die Arbeitslosigkeit bei 25 Prozent liege und das Durchschnittsgehalt im Vergleich zu Italien 30 Prozent niedriger sei. Die Region Venetien befürchtet also eine kroatische Invasion und fordert, dass die heimischen Arbeitnehmer geschützt werden — Venetien, jene Region, die mit ihren Nachbarn Friaul-Julisch Venetien, dem österreichischen Kärnten, aber auch den kroatischen Istrien und der Gespanschaft Primorje-Gorski kotar eine [Adriatische] „Euroregion“ schaffen will. Nun einmal ganz offen: Die Politik ist eine Hure. Da sollen uns die Politiker einmal erklären, was denn dann noch der Sinn dieser „Euroregion“ sein soll!

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