Junge Istanbuler am Bosporus-Ufer.

Der Ruf des Bosporus

Sie sind in Deutschland, Frankreich oder Belgien geboren, doch die Krise und fehlende Arbeits- und Zukunftsperspektiven verleiten immer mehr junge Türken Europas dazu, in der türkischen Heimat ihr Glück zu versuchen. Die meisten gehen nach Istanbul.

Veröffentlicht am 17 November 2010 um 09:33
Junge Istanbuler am Bosporus-Ufer.

Einmal im Monat trifft sich eine Gruppe von rund fünfzig jungen Türken in einer Bar in Istanbul. Man erzählt sich die letzten Neuigkeiten, tauscht Visitenkarten und Stellenangebote aus. Auf Deutsch. „Deutsch ist meine Muttersprache“, betont Emine Sahin, eine 37-jährige Immobilienmaklerin. Sie organisiert dieses monatliche Treffen von Deutschtürken, die wie sie beschlossen haben, am Ufer des Bosporus Fuß zu fassen.

„Der Trend zur Rückkehr der Deutschtürken in die Heimat kann in Zukunft nur zunehmen. Mit der Krise in Europa gibt es immer weniger Möglichkeiten für junge Menschen mit Hochschulabschluss und internationalem Profil“, meint die junge Frau mit den hellen Augen. Die Türkei hingegen, mit einer quasi chinesischen Wachstumsrate biete „mehr Perspektiven“, führt Emine fort. Sie wurde in Ankara geboren, ist aber in Deutschland aufgewachsen. Sich selbst definiert sie als „völlig integriert“.

Mercedes reserviert ein Drittel seiner Istanbuler Jobs für Deutschtürken

Fünfzig Jahre nach der Ankunft der ersten Gastarbeiter 1961, kehren sich die Migrationsströme zwischen Deutschland und der Türkei um. Mehr als drei Millionen Türken leben in Deutschland. 2009 verließen mehr Türken Deutschland (40.000), als türkische Gastarbeiter nach Deutschland kamen (30.000). Die Kinder und Enkel der ersten anatolischen Zuwanderer wählen den umgekehrten Weg. Ein Trend, der den Invasionsfantasien, türkische Arbeitnehmer würden im Fall eines EU-Beitritts die Union überrennen, entgegenläuft.

Laut einer Studie des deutschen Instituts Futureorg denkt heute ein Drittel der jungen Leute mit doppelter Staatsbürgerschaft darüber nach, in der Türkei Karriere zu machen. Die deutschen Unternehmen haben es nicht verstanden, dieses Potenzial auszuschöpfen. Die türkische Tochtergesellschaft von Mercedes-Benz behält bereits 30 Prozent der Managerjobs den Deutschtürken vor.

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Auch die öffentlichen Einrichtungen öffnen sich den „Eurotürken“, deren doppelte Kultur als Plus verstanden wird. „Die Türkei entwickelt sich rasant und braucht Leute wie wir“, stellt Ilker Astarci fest. Er ist in Belgien geboren und hat dort auch studiert. Seit kurzem ist er als Berater des türkischen Regierungschefs Recep Tayyip Erdogan tätig. „Es gibt hier mehr Aufstiegschancen als in Europa, und es war mir wichtig, herzukommen, um meiner türkischen Heimat zu dienen.“

Flucht vor der Familie in die Türkei

Der Ruf des Bosporus zieht immer mehr junge Türken aus Europa an. Zahlreich kommen sie aus Belgien, den Niederlanden, Österreich oder Frankreich. „Ich erhalte immer mehr Lebensläufe von Türken aus Frankreich, vor allem von Mädchen“, notiert Hatice Luis, die in Istanbul die Filiale eines Logistikunternehmens aus dem Pariser Großraum leitet. Für zahlreiche junge Türkinnen ist Istanbul eine Möglichkeit, dem Druck der Familie zu entfliehen.

Hatice, 32, ist selbst die dritte von sechs Schwestern und ist im Pariser Vorort Clichy-sous-Bois aufgewachsen. „Wir lebten in einer Drei-Zimmer-Wohnung im zehnten Stock. Das Kinderzimmer diente den Eltern gleichzeitig als Näherei“, erzählt sie. „Mein Vater stammt aus einem kleinen Dorf und wollte nicht, dass seine Töchter studieren. Ich wurde von den unglaublich engagierten Lehrern vom Gymnasium gerettet.“ 2001 kommt sie schließlich nach Istanbul, „dem einzigen Zielort, gegen den die Eltern nichts einwenden können“, wie eine andere „Heimkehrerin“ betont.

„Ich wusste nicht recht, welcher Kultur ich angehöre“

Die Eurotürken der zweiten oder dritten Generation träumen oftmals davon, zu ihren Wurzeln zurückzukehren. „Ich wollte seit eh und je in Istanbul leben“, sagt die aus Frankfurt stammende Pinar Kiliç, die seit 2006 für die türkische Tochter von Google arbeitet. „Ich fühle mich als Türkin, auch wenn ich 25 Jahre in Deutschland gelebt habe. Zuhause wurde türkisch gesprochen und türkisch gegessen.“

Die Identitätssuche ist auch ein Bestandteil der Emigration in die Türkei. Hatici war lange Zeit frustriert, „in der Türkei nicht als Türkin und in Frankreich nicht als Französin wahrgenommen zu werden.“ Istanbul ist da ein Kompromiss. „Eine europäische Metropole mit orientalischem Einschlag, genauso wie wir“, sagt sie. „Doch bin ich unbestreitbar durch und durch Französin, selbst wenn ich erst vor kurzem die Staatsbürgerschaft bekommen habe“, fügt sie hinzu. Für Emine sieht das genauso aus. Sie definiert sich als „Deutsche mit türkischen Wurzeln“. „Mit vierzehn wusste ich nicht recht, welcher Kultur ich eigentlich angehöre“, lächelt sie heute.

Bei Ankunft: Kulturschock

Der 2004 aus einem Dorf in den Vogesen eingereiste Ali Koç hatte sich das Ziel gesetzt, die Sprache und die Heimat seiner Eltern besser kennenzulernen. „Wie viele andere kannte ich nur das Dorf meiner Eltern, wo ich jedes Jahr die Sommerferien verbrachte“, erklärt er. „In meiner Art zu Denken fühle ich mich eher als Franzose, aber kulturell fühle ich mich als Türke. Ich hänge auch sehr an dem System, in dem ich aufgewachsen bin: eine multikulturelle Gesellschaft mit Förderung durch Stipendien. Dabei verdiente mein Vater nur den Mindestlohn. Hier ist so etwas undenkbar.“

Die Emigration der Eurotürken in die Türkei nimmt vor allem bei hochqualifizierten Arbeitnehmern über 35 zu. Sie meinen, dort mehr Aufstiegschancen zu bekommen. Die Diskriminierung, der sie in Europa ausgesetzt sind und die nicht endenden Integrationsdebatten haben viele entmutigt. „Doch glaube ich nicht, dass negative Erfahrungen oder fehlende Integration der Hauptgrund der Heimkehr sind“, meint die amerikanische Universitätsprofessorin Susan Rottmann, die sich mit diesem Thema befasst.

Für viele Kinder anatolischer Gastarbeiter ist die Entdeckung Istanbuls oftmals „ein echter Schock“, wie uns Ali Koç bestätigt. Selbst bei ihrer Ankunft in der Türkei erleben sie eine kulturelle Kluft.

Übersetzung von Jörg Stickan

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