Der Westen tritt ab

Russland hat zuviel Einfluss in der NATO – das zeige auch das Gipfeltreffen des Atlantikbündnisses in Lissabon, befürchtet ein rumänischer Editorialist. Osteuropa solle sich in Sicherheitsfragen weiter an Washington halten.

Veröffentlicht am 19 November 2010 um 14:24

Rumänien sollte sich heute schon darauf vorbereiten, dass es bald in einem Europa leben wird, in welchem dieNATOdie Sicherheit des Landes nicht mehr garantieren kann. Die Achse Paris-Berlin-Moskau lässt uns nur noch einen einzigen Ausweg: die Vereinigten Staaten. Guten Tag und herzlich willkommen im 21. Jahrhundert! Seit heute, dem ersten Tag des „historischen“ NATO-Gipfels in Lissabon, stehen wir in einer neuen Realität und einer neuen geopolitischen Ära. Der Gipfel ist „historisch“ – aber aus ganz anderen Gründen als von NATO-Funktionären und führenden Politikern kundgegeben.

Es geht nämlich nicht um die Einweihung eines neuen, effizienteren und flexibleren Bündnisses – wie es in den Publicity-Texten für das Ereignis heißt – sondern vielmehr um das offizielle Eingeständnis, dass es den „Westen“ als strategisches und militärisches Konzept nicht mehr gibt, und darum, die NATO in einen politischen Klub um die EU und Russland zu verwandeln, an welchem die USA nur ausnahmsweise teilnehmen.

Russland erkauft seinen Einfluss

In gewisser Hinsicht war es ja unvermeidlich. Durch das Verschwinden der Sowjetunion, des Feindes aus dem Kalten Krieg, fiel die NATO ihrem eigenen Erfolg zum Opfer. Die Balkankriege offenbarten die militärische Schwäche Europas und der Krieg in Afghanistan vertiefte die Kluft zwischen den Vereinigten Staaten und ihren europäischen Alliierten. Deren Unvermögen, einen bedeutsamen Beitrag zum Sieg gegen die Taliban zu leisten und anschließend zur Stabilisierung des Landes beizutragen, trug ebenso zum Zerfall des Bündnisses bei wie die Tatsache, dass einige Verbündete unfähig waren, sich im Kampf zu engagieren, während andere die meisten Verluste erlitten.

Manche Kommentatoren halten es für eine Ironie der Geschichte, dass die NATO am selben Ort zu Ende geht wie die Sowjetunion, nämlich in Afghanistan. Doch die erste wirkliche Krise für den Westen war der Irak. Und dann gibt es da noch das „Problem“ Russland. Der Kreml-Einzug von Wladimir Putin und seinem Team ehemaliger KGB-Offiziere machte die mageren Fortschritte aus Jelzins Zeiten in Sachen Demokratie und Rechtsstaat zunichte. Dennoch wollten die westlichen Länder jegliche Übergriffe und die Verbarrikadierung der russischen Gesellschaft nicht wahrhaben, im Gegenzug für die Bereitstellung von Erdgas und preisgünstigen Rohstoffen.

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Zurück zum Konzert der europäischen Großmächte

Dies schlug sich in einer noch stärkeren Spaltung der Bündnispartner beim Gipfeltreffen [von 2008] in Bukarest nieder, als Angela Merkel und Nicolas Sarkozy mit Leib und Seele für unveränderte Verhältnisse kämpften, der Ukraine und Georgien den Beitritt zum Aktionsplan zur NATO-Mitgliedschaft verwehrten und somit implizit das Vetorecht Moskaus in NATO-Belangen eingestanden. Infolgedessen fand ein paar Monate später der Einmarsch nach Georgien statt und heute bewegt sich die Politik faktisch wieder in den Einflusssphären des 19. Jahrhunderts, also dem im Blutbad des Ersten Weltkriegs erstickten „europäischen Konzert“ der Großmächte.

Diese neue Ordnung wird morgen durch die Aufforderung an Russland, sich dem Raketenschutzschild anzuschließen, offiziell bestätigt. Eine kürzlich vom European Council on Foreign Relations veröffentlichte Studie spricht bereits von einem neuen europäischen Sicherheitsaufbau, der durch einen trilateralen Dialog zwischen EU, Russland und Türkei verwirklicht werden soll. Die NATO fällt gar nicht ins Gewicht. Doch „EU“ ist nicht wirklich gleichbedeutend mit „Europa der 27“. Angela Merkel machte Medwedew Versprechungen hinsichtlich der europäischen Politik, ohne ihre Partner überhaupt zu konsultieren, und es ist symbolisch nicht unwichtig, dass der russische Präsident die Einladung des NATO-Generalsekretärs nach Lissabon zunächst ablehnte, bevor er dann die des Duos Sarkozy-Merkel annahm.

Lieber die schützende Hand Amerikas als Achse Paris-Berlin-Moskau

Natürlich werden die Amerikaner nicht aus der Region verschwinden, denn sie müssen ihre Interessen im Nahen Osten vertreten und sich um den Raketenschutzschild kümmern. Selbst wenn die Obama-Regierung mit der Vergangenheit reinen Tisch gemacht hat und das Weiße Haus bereit ist, Russland prinzipiell die Unschuldsvermutung zuzugestehen, bleibt die Vertiefung des Bündnisses mit den Vereinigten Staaten doch die beste Wahl für unsere Sicherheit, noch vor der Achse Paris-Berlin-Moskau.

Es wäre der reine Hohn, sollte das russische Militär jetzt, nachdem wir die russischen Truppen des Kommunismus losgeworden sind, in einer „beratenden“ Funktion wieder auf rumänisches Landesgebiet dringen und hier den Schutzschild einrichten, zu dessen Teilnahme Russland aufgefordert wurde. (pl-m)

Kooperation

EU-Verteidigung in weiter Ferne

Beim NATO-Gipfel, der am 19. und 20. November in Lissabon stattfindet, „reist Barack Obama an, um den Dissens zwischen Merkel und Sarkozy zu schlichten“, schreibt i. Die portugiesische Tageszeitung erläutert, dass die atomare Abschreckung ein Zankapfel zwischen den beiden sei, denn „Deutschland denkt, dass die NATO bei der Abrüstung mit gutem Beispiel vorangehen soll. Für Frankreich hingegen sind Atomwaffen für die Zukunft Europas absolut notwendig.“ Dieser Streitpunkt könnte auch die Idee einer gemeinsamen europäischen Verteidigungspolitik schwächen. Denn: „In nur zwei Wochen, vom britisch-französischen Gipfeltreffen in London bis zum NATO-Gipfel in Lissabon, hat die französische Verteidigungspolitik, jegliche europäische Ambitionen begraben“, schreibt in Le Monde der Politikwissenschaftler Louis Gautier. Mit dem am 2. November mit London unterzeichneten Militärabkommen habe Paris „der EU-Verteidigung den Rücken gekehrt.“ „Angesichts der permanenten Finanzierungsprobleme ihrer Streitkräfte, bevorzugen Großbritannien und Frankreich eine engere Zusammenarbeit, in der — wahrscheinlich vergeblichen — Hoffnung, ihre militärische Vormacht in Europa auf Dauer zu stützen.“ Doch sei das Abkommen „entgegen dem europäischen Geist konzipiert“ und „entfernt zusätzlich Frankreich von Deutschland, unserem Partner (auch in Rüstungsfragen). Und das in dem Moment, wo unser Nachbar seine Verteidigung grundlegend reformiert“, bedauert der Wissenschaftler in Anspielung auf den Plan der Einführung einer Berufsarmee in Deutschland.

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