Nachrichten Migration – Eine Herausforderung für Europa (3/5)
Auf dem Schild: „Nieder mit Europa und den Migranten“. In der Sprechblase: „Eigentlich sind sie uns sehr ähnlich“

Großbritannien schlägt dem Rest der Welt die Tür vor der Nase zu

Großbritannien gibt mit seinen Maßnahmen gegen Immigration ein klares Signal an Einwanderer: „Bleibt zuhause!“. Doch das Land hätte eine intelligente und effiziente Integrationspolitik besonders nötig, die die Politiker mit ihrem populistischen Machtspiel verhindern, meint ein Leitartikler der Financial Times.

Veröffentlicht am 13 August 2013 um 11:25
Auf dem Schild: „Nieder mit Europa und den Migranten“. In der Sprechblase: „Eigentlich sind sie uns sehr ähnlich“

Haltet die Welt an. Großbritannien will abspringen. Die Olympischen Spiele 2012 waren ein großartiges Fest, das die Vielfalt zelebrierte. London setzte sich selbst als konkurrenzlose globale Drehscheibe in Szene. Die Lokalmatadoren der Spiele – Hochleistungssportler wie Mo Farah und Jessica Ennis – versinnbildlichten das neue und großartige „Britishness“. Das war damals.

Ein Jahr danach klingt die nationale Politik eher nach schroff zuknallenden Türen. Die an Ausländer gerichtete Botschaft ist deprimierender Weise ganz einfach: Bleibt fern. David Camerons Konservative versprechen ein Referendum, das dazu führen könnte, dass Großbritannien sich von Europa löst.

Früher stellten die Torys noch eine Wahlmöglichkeit dar: Europa den Rücken kehren, bedeutete, sich der Welt zu öffnen. Das ist längst nicht mehr so. Barrikaden werden inzwischen gegen alles und jeden errichtet. Touristen, Studenten, Führungskräfte – angeblich sind sie alle illegale Einwanderer.

Politik des Misstrauens

Neulich gewährte die Abteilung für Grenzkontrollen des Innenministeriums einen [[Einblick in die immer scheußlichere populistische Regierungspolitik]]. Durch Londons ethnisch gemischte Stadtgebiete fuhren Lastkraftwagen mit Plakaten, auf denen folgende Botschaft stand: Illegale Einwanderer sollten „in ihre Heimat zurückkehren oder sich auf Verhaftungen gefasst machen“.

Das Beste vom europäischen Journalismus jeden Donnerstag in Ihrem Posteingang!

Die Liberaldemokraten, die Juniorpartner in Camerons Koalition, protestierten und prangerten die Initiative als „dumm und beleidigend“ an. Daraufhin kündigte das Büro des Premierministers unberührt an, die Kampagne möglicherweise auf das ganze Land auszuweiten.

Darüber hinaus plant das Innenministerium die Einführung einer Barkaution in Höhe von 3.000 Britischen Pfund, die Besucher aus „risikoreichen“ Ländern für ihre Einreise nach Großbritannien zahlen müssten. Damit will [das Ministerium die Einreisenden] – wie es selbst erklärt – davon abhalten, „länger zu bleiben als vorgesehen“, und für den Fall, dass die Besucher medizinisch versorgt werden müssen, möglicherweise entstehende Kosten decken.

Zu den auserwählten Ländern gehören Indien, Nigeria, Kenia, Pakistan, Sri Lanka und Bangladesch. Ihnen ist sicher nicht entgangen, dass überwiegend „weiße“ Nationen, wie beispielsweise die USA, Kanada, Australien und Neuseeland, nicht davon betroffen sind.

Für den geografisch wesentlich näher liegenden Raum hat die Regierung versprochen, den Zugang von Rumänen und Bulgaren zu beschränken. Für die Staatsangehörigen dieser EU-Staaten laufen nächstes Jahr nämlich die befristeten Einschränkungen ab, was so viel bedeutet wie: Sie werden sich innerhalb der Union viel freier bewegen können als bisher.

Die britische Boulevardpresse ist schon jetzt voll von Horrorgeschichten über Scharen von „Sozialleistungstouristen“. Was macht es da schon, dass Einwanderer in Wirklichkeit weniger Chancen haben, Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen, als Briten.

Cameron kooperiert mit den „heimliche Rassisten“

[[Die Regierung reitet auf der populistischen Welle]]. Der Premierminister hat die Integrationsfähigkeit der „großen Gesellschaft“ über Bord geworfen, die einst sein Markenzeichen war. Die verkniffenen Nationalisten der [EU-skeptischen und rechtspopulistischen] United Kingdom Independence Party [kurz UKIP] haben die Tories auf der rechten Spur überholt. Der wirtschaftliche Stillstand und die fiskalpolitischen Sparmaßnahmen haben die Ressentiments der Öffentlichkeit bedient. Einst nannte Cameron die Anhänger der UKIP „heimliche Rassisten“. Nun macht er ihnen den Hof.

Die in der Luft liegende Paranoia wird von Organisationen wie Migration Watch UK geschürt. Ihr Vorsitzender, der ehemalige Diplomat Sir Andrew Green, hält eine Studie hoch, aus der hervorgeht, dass die „weißen Briten“ (wie Sir Andrew sie selbst nennt) in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts möglicherweise nur noch ein Minderheitendasein fristen werden.

Einige von uns stellen sich daraufhin die Frage: „Na und?“ Als Farah und Ennis – er stammt aus Somalia, sie hat karibische Wurzeln – angefeuert und an die große Glocke gehängt wurden, schien jedermann davon auszugehen, dass Großbritannien die Hautfarbe nicht mehr als Kennzeichen einer nationalen Identität begreift.

Ich erinnere mich nicht daran, dass Leute sich über diese „braunen Briten“ beschwert haben, als sie sich ihre Goldmedaillen erkämpften. Nur leider schaffen solche Triumphe es nicht, der Fremdenfeindlichkeit in den Bars und Kneipen der englischen Grafschaften den Garaus zu machen.

Großbritannien braucht eine intelligente und effiziente Einwanderungspolitik. Die Menschen wollen sehen, dass das System gerecht ist, gut funktioniert und die ortsansässigen Gemeinschaften nicht übermäßig stört. Die letzte Regierung unter Labour-Führung hat die Anzahl der Migranten, die aus ehemaligen kommunistischen Staaten stammten [und nach Großbritannien kamen], nachdem ihre Länder der EU beigetreten waren, hoffnungslos unterschätzt. Die Kombination aus einer Politik der offenen Tür und nachlässigen Verwaltungsbehörden hat dazu geführt, dass nun die weit verbreitete Auffassung herrscht, die Einwanderungspolitik sei außer Kontrolle geraten.

Paranoia statt Integrationspolitik

Die derzeitige Regierung hat moralische Panikmache und populistisches Gebaren allerdings zu einem Ablenkungsmanöver gemacht, mit dem sie von ihrer eigenen Unfähigkeit, das System in den Griff zu bekommen, ablenken will. Und wie viel leichter ist es doch, die Einwanderer zu beschuldigen, [den Briten] die Arbeitsplätze wegzunehmen, anstatt endlich etwas gegen die Erfolglosigkeit des heimischen Bildungssystems zu unternehmen, dass so viele unmotivierte und unqualifizierte junge Menschen produziert.

Es ist gar nicht so lange her, da hat der Abgeordnetenausschuss erklärt, dass die offiziellen Einwanderungszahlen ohnehin nur auf „Schätzungen“ beruhen. Und das ist nicht verwunderlich, zumal es für ausreisende Gäste weder Pass- noch Visumkontrollen gibt. Diesen Schätzungen zufolge ist die Nettozuwanderung recht drastisch gesunken. Und vermutlich stimmt das auch. Nur ist es so, dass es für den Rückgang vor allem einen Grund gibt: Das rigorose Vorgehen gegen zahlreiche ausländische Studenten.

Für Länder wie Kanada, die USA und Australien gehören Studenten nicht zur dauerhaften Einwanderung. Aus dem naheliegenden Grund, dass die meisten von ihnen in ihre Heimatländer zurückkehren. In der Zwischenzeit ist Großbritanniens Visumsystem aber aus den Fugen geraten, sind die Einreisekontrollen im Londoner Flughafen Heathrow ein heilloses Durcheinander, und 300.000 Asylanträge und Einwanderungsfälle noch immer unbearbeitet.

Das offizielle Ziel, die Nettozuwanderung auf wenige Zehntausend zu reduzieren, strotzt nur so von Ungereimtheiten. Dabei wird davon ausgegangen, dass die Anzahl der Einreisenden aus Brasilien oder den USA zunehmen, im Verhältnis zur Zahl der Briten, die im spanischen Sonnenschein in den Ruhestand gehen, aber abfallen wird. Wenn polnische Klempner in ihre Heimat zurückkehren, können die Briten also mehr indische Ingenieure aufnehmen – und andersherum.

Hinter derartigen Blödsinnigkeiten versteckt sich aber noch eine viel größere Gefahr. Großbritannien war einst ein meisterhafter Verfechter eines liberalen und offenen internationalen Systems. Nun definiert es sich in Beziehung zum Rest der Welt als gekränktes Opfer.

Die Versuche, aus Europa auszutreten und Einwanderer auszusperren, offenbaren, wie schlimm es um das nationale Selbstbewusstsein wirklich steht. Welche wirtschaftlichen Folgen all dies letzten Endes haben könnte? Es wäre eine Katastrophe. Warum sollte irgendein vernünftig denkender Unternehmer aus – sagen wir mal – China, Indien oder Brasilien, in ein Land investieren, das ihm den Zugang zur EU verwehrt und seinen Landsleuten zu verstehen gibt, dass sie unerwünschte Gäste sind?

Großbritannien mag kurz vor dem Absprung stehen, die Welt aber wird sich weiterdrehen.

Tags
Interessiert an diesem Artikel? Wir sind sehr erfreut! Es ist frei zugänglich, weil wir glauben, dass das Recht auf freie und unabhängige Information für die Demokratie unentbehrlich ist. Allerdings gibt es für dieses Recht keine Garantie für die Ewigkeit. Und Unabhängigkeit hat ihren Preis. Wir brauchen Ihre Unterstützung, um weiterhin unabhängige und mehrsprachige Nachrichten für alle Europäer veröffentlichen zu können. Entdecken Sie unsere drei Abonnementangebote und ihre exklusiven Vorteile und werden Sie noch heute Mitglied unserer Gemeinschaft!

Sie sind ein Medienunternehmen, eine firma oder eine Organisation ... Endecken Sie unsere maßgeschneiderten Redaktions- und Übersetzungsdienste.

Unterstützen Sie den unabhängigen europäischen Journalismus

Die europäische Demokratie braucht unabhängige Medien. Voxeurop braucht Sie. Treten Sie unserer Gemeinschaft bei!

Zum gleichen Thema