Die Wiederentdeckung europäischer Werte

Europa gehört mittlerweile mehr den Regierungen, als seinen Bürgern. Welche Chance hat das europäische Projekt noch, wenn seine Werte nicht ausreichend bekannt sind und nicht verstanden werden, fragt sich ein rumänischer Schriftsteller.

Veröffentlicht am 21 August 2013 um 11:55

Der jüngste Bericht des Europaabgeordneten Rui Tavares zur Einhaltung der Menschenrechte in Ungarn und die Art und Weise, wie dieser von der ungarischen Regierung angenommen wurde, werfen einmal mehr die Frage nach der Nachhaltigkeit des europäischen Projektes nach dem Fall des Eisernen Vorhangs auf. Neu ist das nicht. Ungarn hat mit seiner Entwicklung einen Weg eingeschlagen, der ganz und gar nicht den Erwartungen aus Brüssel entspricht. So wie übrigens auch Rumänien im Sommer des letzten Jahres.

So wie es beim Umgang mit der Roma-Problematik irgendwann auch Bulgarien, die Slowakei ergangen ist und wie es auch Frankreich bei demselben Problem (man bedenke, was sich auf einigen Rathäusern abspielt) gemacht hat, oder England betreffend das Arbeitsrecht für Rumänen und Bulgaren im Vereinigten Königreich... Diese Liste ließe sich noch beliebig fortsetzen. Es geht nicht darum, Ungereimtheiten aufzuzeigen, Unzulänglichkeiten zu benennen oder die Effekte des gemeinschaftlichen bürokratischen Mechanismus anzuprangern. Sondern darum, von Zeit zu Zeit festzustellen, dass in einigen Mitgliedstaaten das, was vielen Regierungen und politischen Führungspersönlichkeiten in Europa als wiederentdeckter Traum erschien, immer wieder zu einem Albtraum, einer Depression oder zu einer Neurose der Parlamente und der Regierungen werden kann. Für Brüssel gilt das übrigens auch.

Eine ineffiziente Kommunikationsstrategie

Die Grundverträge der Europäischen Union geraten immer häufiger in Konflikt mit den Lebenswirklichkeiten der Menschen, die so gar nicht der Philosophie des geeinten Europas entsprechen. Der Versuch, auf gemeinschaftlicher Ebene Recht zu setzen ist ein langwieriger Prozess, der oft nur zu allgemeinen Bestimmungen führt, während in der Realität vor dem Hintergrund der allgegenwärtigen Verbreitung der Informations- und Kommunikationstechnologien immer neue Kontexte des (Über)lebens in einem rasanten Tempo entstehen. Die Aufgabe, Umsetzung und Einhaltung dieser großangelegten Legislativpakete der EU zu überwachen, ist an sich schon stressig und wird angesichts der politischen Machtspiele in den Mitgliedstaaten auch noch uneinheitlich ausgeführt.

Was noch nicht recht gelingen will, ist die Vermittlung der Werte dieses großen europäischen Projektes; aus Umfragen in verschiedenen Mitgliedstaaten geht häufig hervor, dass die von der Europäischen Union vertretenen Werte zu wenig wahrgenommen werden. Die Kommunikationsstrategie des Europaparlaments, des Europäischen Rates und des Ministerrates ist längst nicht so effizient wie erhofft. Bei den 2004 und 2007 beigetretenen Mitgliedsstaaten kann man gut beobachten, wie unterschiedlich die Redeweise ist, wenn es um Themen wie Demokratie, Markt, Liberalismus, Sozialdemokratie, Menschenrechte, Transparenz, zivilgesellschaftliche und soziale Verantwortung sowie um Regierungsverantwortung geht. Die Sprache dafür war und ist immer noch von „Barrikaden” gekennzeichnet, hinter denen sich die stetig schrumpfende Anzahl an Funktionsträgern aus der kommunistischen Zeit vor dem Angriff einer unvollkommenen Welt verschanzen.

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Eine unerklärbare neue Welt

Das, was für viele wie die kompakte Perfektion der verschlossenen osteuropäischen Gesellschaften schien und es für einige sogar auch war, wurde überstürzt ersetzt durch eine unerklärbare neuen Welt, zu der noch die Grammatik einer Fremdsprache hinzukam, die auswendig gelernt werden musste, wobei der Lernprozess immer noch andauert. Die Anstrengung war gewaltig und manchmal ist der Vergleich mit einer anderen, finanziellen Anstrengung gar nicht so fehl am Platz, nimmt man die Hilfe aus der BRD für das Deutschland, das mit dem Fall der Mauer verschwand als Beispiel. Die Evaluierungen, die über ein Jahrzehnt nachdem jene immensen Summen für die Angleichung der Verhältnisse in der DDR an das „Niveau” der BRD geflossen sind erstellt wurden, sind nicht besonders ermutigend ausgefallen. Heute hat man manchmal von den „neuen Demokratien“ aus dem Osten Europas den selben Eindruck.

In Brüssel scheint nicht wirklich zu verstehen, dass die Staatsräson in diesen Demokratien ganz anders funktioniert; heute sehen sie sich in die Lage versetzt, sich anpassen und einen Staat funktionsfähig machen zu müssen, von dem nicht nur erwartet wird, sich im von Brüssel vorgehaltenen Spiegel zu betrachten, sondern sich darin auch noch zu erkennen. Das Modell der Staatsräson, das Michel Foucault für das 17. und 18. Jahrhundert analysiert hat, beschäftigte sich mit der „Beschränkung des Übermaßes an Regierung“, und ihr operationelles Instrument wurde gegen Ende des 18. Jahrhunderts dann die Wirtschaftspolitik. Sie hat die Staatsphilosophien im Hinblick auf die Vorstellung des „Wohlstands“ bestimmt: dieser Begriff war in Osteuropa nach 1945 nicht verbreitet. Diese große Lücke, die mit einer diabolischen Wissenschaft überspielt wurde, hat zur Herausbildung eines Regierungstypus im Sozialismus-Kommunismus geführt, der alle Instinkte der Menschen in Richtung der individuellen Verwirklichung, der Wettbewerbsfähigkeit und des Verantwortungsbewusstsein für das eigene Handeln erheblich geschwächt hat.

Europa muss seine Strategien überprüfen

Heute müssen die gemeinschaftlichen EU- Politiken nicht nur den wohlbekannten Niveauunterschieden zwischen alten und neuen Mitgliedstaaten Rechnung tragen, sondern sich auch mit den Auswirkungen beschäftigen, die von überzogenen Wünschen nach „schnellen Erfolgen“ herrühren. Dieses Bild ist heute vorherrschend und bringt viele gemeinschaftliche Errungenschaften ins Stocken: den Wert der Arbeit, die Investitionen in Bildung und Ausbildung, die Regelung des Arbeitsmarktes analog zu den neuen wirtschaftlichen Polarisierungen auf globaler Ebene, all das erfordert eine noch schnellere Reaktionsfähigkeit. Wenn es dann tatsächlich zu einer Reaktion kommt, so wie zum Beispiel bei den Themen Landwirtschaft, Fischerei oder in der Kreativwirtschaft, dann hat die Anstrengung, daraus ein Gesetzespaket verabschieden zu wollen, schon zu Alleingängen und sozialen Reaktionen geführt.

Besorgt um den wirtschaftlichen Druck, der vom amerikanischen Lebensstil ausgeht, sah sich die Europäische Union gezwungen, ihre Strategien bezüglich der großen aufstrebenden Wirtschaftsmächten zu überprüfen und auch die Bedeutung des asiatischen Kontinents neu zu gewichten. Die Zeichen, die die chinesische Wirtschaft jetzt setzt, versetzen immer mehr Kanzlerschaften in Europa in Sorge. […] Anders als Russland, China oder die USA kann die Europäische Union nicht mit steigenden Geburtenraten auftrumpfen. Die EU wird von der Überalterung der Gesellschaft bedroht, der Arbeitsmarkt ist noch kein Binnenarbeitsmarkt, er unterliegt den nationalistischen Schüben der verschiedenen parlamentarischen Parteien (was den Zugang zum Arbeitsmarkt für EU-Bürger betrifft), die Streitkräfte unterliegen noch dem Modell der NATO (dieser Tage ist wieder einmal die Idee von gemeinsamen EU-Streitkräften aufgekommen), etc.

Kreative Visionen für Europa

Heute ist Europa viel zu sehr das Europa der Regierungen, als das seiner Völker. Die europäischen Werte hätten es verdient, wieder entdeckt zu werden. Die Weitervermittlung dieser Werte ist Europas große Stärke. Wird aber die Vermittlung dieser Werte allein den Regierungen und Kommunikationsagenturen überlassen, dann bleibt dabei die Kreativität auf der Strecke. Europa ist noch nicht in der Lage, Führungspersönlichkeiten mit dem nötigen Potenzial hervorzubringen, um als Inspirationsquelle zu dienen. Wenn solche Persönlichkeiten fehlen und die europäische Integrationsarbeit den Bürokraten und den Technologien überlassen wird, die den „europäischen Lebensstil“ gestalten sollten, dann liegt es auf der Hand, dass Europa sich von seinen Bürgern entfernt.

Die Regierungen brauchen eine kreative Vision, denn nur so kann das geeinte Europa wieder in eine Richtung gelenkt werden, wo die persönliche Weiterentwicklung eines jeden Bürgers in seinen Mitgliedstaaten im Vordergrund steht. Gleichzeitig müssen aber erst die grundlegenden Dinge sehr gut funktionieren (Arbeitsplatz, Wohnung, ein akzeptabler Lebensstandard – wobei die Bereiche Bildung und Gesundheit als entsprechende Indikatoren gelten), denn nur dann können auch die komplizierteren Anliegen überhaupt gelingen. Diese Dinge müssen die Mitgliedstaaten bei sich zu Hause regeln. Gelingt es einer Regierung aber, seine Bürger davon zu überzeugen, dass es sich zu Hause genau so gut leben lässt, wie woanders, dann heisst das, dass der Einsatz sich für alle Bürger wirklich gelohnt hat.

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