Nachrichten Vertrag von Lissabon

Ein Jahr und schon so alt

Das am 1. Dezember 2009 in Kraft getretene neue Funktionssystem der Union musste sich gleich mit der Krise auseinandersetzen. Doch mit der Zeit dürften seine Vorteile deutlicher werden, meint ein spanischer Editorialist.

Veröffentlicht am 30 November 2010 um 23:12

Am 1. Dezember feiert der Vertrag von Lissabonsein Einjähriges. Die bedeutenden Ereignisse der vergangenen zwölf Monate mussten dieses Jubiläum natürlich eintrüben. Das Inkrafttreten der neuen europäischen Verfassung traf mit der Schuldenkrise in Griechenland zusammen, welche sich schnell zum finanziellen Desaster für die Eurozone auswuchs. Diese Krise zeigte deutlich, dass der Vertrag schon von Anfang an überholt war. Nach zehn scheinbar erfolgreichen Jahren entdeckten wir mit Schrecken, dass Europa für die Verteidigung seiner Währung nicht gewappnet ist. Zum Glück sieht der Vertrag Mechanismen vor, mit denen die nötigen Veränderungen eingeführt werden können, selbst wenn sich manche über eine so verfrühte Abänderung entrüsten.

Die EU hat letztendlich auf die vielen Europa-Befürworter gehört, deren Warnungen seit Jahren durch die Euphorie der Märkte übertönt worden waren. So erklingt seit kurzem wieder die Stimme von Jacques Delors. Der einstige Kommissionspräsident, einer der großen Errichter der Union, erklärte kürzlich: „Die Wirtschafts- und Währungsunion fiel dem finanziellen Kapitalismus und einem durch die Unverantwortlichkeit unserer Regierenden herbeigeführten Versagen zum Opfer.“ Für ihn besteht dieses Versagen darin, „eine Währungsunion ohne eine Wirtschaftsunion durchführen zu wollen“.

Delors äußerte sich ironisch über die Absurdität der Welt, in der wir leben. „Heute drohen uns die Märkte damit, dass sie uns angreifen, wenn wir nicht unser Defizit reduzieren. Doch weil die Sparpolitik zur Reduzierung des Defizits das Wachstum verlangsamt, wollen sie uns dann angreifen, weil unser Wachstum nicht hoch genug ist.“ Weiter bemerkt er, dass ein „Comeback des Populismus“ im Anzug ist. Ein beunruhigendes Wiedererwachen, denn Delors zufolge schlägt sich der Populismus nicht nur in den Landeswahlen, sondern auch im Europäischen Rat nieder.

„Die Situation kann nicht mehr andauern“

Marco Incerti, Forscher beim Centre for European Policy Studies (CEPS), erklärt: „Eines der Probleme des Lissabonvertrags ist die Tatsache, dass die Probleme, mit denen wir heute konfrontiert sind und die damals zum Großteil noch nicht aufgetaucht waren, bei der Ausarbeitung der Europäischen Verfassung (ein erfolgloses Projekt, das jedoch zu 90 Prozent im neuen Vertrag übernommen wurde) nicht berücksichtigt wurden.“ „Die heutige Situation kann nicht mehr andauern“, meint Incerti, „denn es fehlen uns die nötigen Instrumente, um manche dringenden Fragen zu regeln“, insbesondere im Bereich der Finanzen.

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„Es ist widersinnig, warten zu müssen, dass 16 Personen [die Leiter der Eurogruppe] zusammentreten, um eine Entscheidung zu treffen“, schließt er. Eines der Hauptziele des Vertrags bestand darin, der EU eine einzige, gemeinsame Stimme für ihre Vertretung nach außen zu verleihen. Deshalb bildete man das Amt des ständigen Präsidenten des Europäischen Rats und verstärkte die Befugnisse der europäischen Diplomatie. Nach einem Jahr ist es noch zu früh, um das Resultat zu beurteilen.

Doch die von Herman Van Rompuy geleistete Detailarbeit war entscheidend, um in den kritischsten Momenten zur Einigung zu gelangen, als die Union „am Rande der Katastrophe“ stand, wie er es selbst bezeichnete. Van Rompuys Beschluss, die Staats- und Regierungschefs im Februar zusammenzurufen und die Art, wie er das Expertenteam für den Aufbau einer Wirtschaftsregierung leitete, trugen dazu bei, angesichts der Unentschlossenheit der Regierungschefs ein konstruktives Klima aufrechtzuerhalten.

Europa hat zu viele Chefs

Incerti erkennt, wie auch andere Fachleute, dass „Van Rompuy weit besser zurande gekommen ist als man hätte denken können“. Was hingegen die Hohe Vertreterin der Außenpolitik betrifft, so wäre es ungerecht, jetzt schon Bilanz zu ziehen. Catherine Ashton hat ihre ganze Energie darauf angewendet, den Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD) einzurichten, „ein Instrument mit hohem Potential“, so der Experte vom CEPS.

„Eines beunruhigt mich allerdings“, betont hingegen Iñigo Méndez de Vigo, EU-Abgeordneter für die rechtsgerichtete Volkspartei und als Jurist aktiv an der Ausarbeitung der Verfassung beteiligt: „Viele sprechen im Namen Europas, Van Rompuy, Barroso [Präsident der Europäischen Kommission], die Staats- und Regierungschefs [durch den wechselnden EU-Vorsitz] und jetzt ist noch Jean-Claude Trichet[Präsident der Europäischen Zentralbank] dazugekommen. [...] Diese Kakophonie führt zu Verwirrung.“

Enrique Barón, ehemaliger Vorsitzender des Europäischen Parlaments, führt ins Feld, dass „der Europäische Rat nach und nach zur zukünftigen Wirtschaftsregierung der EU wird und das Europäische Parlament neue Befugnisse erhält“. Eines ist sicher: In dem einen Jahr, seitdem der neue Vertrag nun in Kraft ist, haben die EU-Abgeordneten bereits ihrer Stimme Ausdruck verliehen, um neue Bedingungen an das vorher zwischen den Mitgliedsstaaten und den USA getroffene Abkommen über die Übermittlung von Bankdaten zu knüpfen oder um eine größere Rolle des Parlaments in den Debatten über den EU-Haushalt zu verlangen. (pl-m)

Bilanz

Ashton weiß immer noch nicht, wo sie steht

„Ein Jahr Ashton: Und das ist alles?“ fragt sich Le Soir zum einjährigen Geburtstag des Inkrafttretens des Lissabonner Vertrages ohne Umschweife. Für das belgische Blatt „wurde viel über den ehemaligen belgischen Regierungschef [Herman Van Rompuy] gesprochen, an dessen Fähigkeiten keinerlei Zweifel besteht. Auch wenn seine diskrete Art problematisch scheinen könnte. Viel schwieriger ist es dagegen jedoch, auch nur das geringste Lob über die Britin ausfindig zu machen! Bestenfalls – sagen einige – muss man ihr noch ein wenig Zeit lassen…“ Die belgische Zeitung erinnert an die Umstände der Nominierung Ashtons: „Seit sie dem Nest Tony Blairs entflog, reihen sich alles andere als glorreiche Ereignisse politischer Natur aneinander…“ Verbittert stellt die Zeitung fest: „Seit einem Jahr haben wir jedenfalls unsere Mühe, ihren Einfluss auf der Weltkarte auszumachen. Der einzige Sieger der neuen Gebrauchsanweisung der Union ist das Europäische Parlament“, urteilt Le Soir. Dort „diskutiert man wirklich politisch und durchaus angeregt. Und unsere Abgeordneten setzen alles daran, ihren neuen Einfluss in zahlreiche Projekte einfließen zu lassen: Das Recht auf Privatsphäre (Swift), die finanzielle Regulierung, den Europäischen Auswärtigen Dienst, sowie – erst kürzlich – den Haushalt 2011und die zukünftige Finanzierung.“

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