Ein Migrant aus dem Senegal in Takkadum, einem Vorort von Rabat, 23. August 2013.

Auf der Durchreise festgenommen

Für viele Migranten aus Schwarzafrika endet der Versuch, in die EU einzureisen, mit einem quasi permanenten Aufenthalt in Marokko. Dort verstoßen von der EU finanzierte Polizeikräfte gegen ihre Menschenrechte, enthüllt ein Undercover-Journalist.

Veröffentlicht am 10 September 2013 um 11:44
Ein Migrant aus dem Senegal in Takkadum, einem Vorort von Rabat, 23. August 2013.

Ibrahim aus Gambia ruderte bis in Gewässer, die er für spanisch hielt, rief die Küstenwache an und bat darum, gerettet zu werden. Er wurde der marokkanischen Küstenwache übergeben und ist nun in Tanger. Amadou aus Kamerun versuchte, über den Grenzzaun zur spanischen Enklave Melilla zu klettern. „Die marokkanischen Polizisten schlugen uns mit ihren Knüppeln“, erzählt er. Er wurde über die Grenze nach Algerien gebracht, in die Nähe der 120 km entfernten Stadt Oujda, und dort mit 35 anderen ausgesetzt. Heute ist er wieder in Marokko und lebt unter rauen Bedingungen in einem Wald, angewiesen auf die Lebensmittelhilfe der örtlichen Moschee.

Zeugenberichte von diesen und anderen Männern zu bekommen, ist nicht einfach. Sie verstecken sich in Slums und in Wäldern. Sie tragen die typischen Narben, die ich bei mittellosen Migranten an allen Grenzen Europas gesehen habe: Narben von rassistischen Verprügelungen, Narben vom Robben durch den Schutt, um der Polizei zu entkommen. Sie sind zu tiefst erschöpft und tragen die zerrissene Kleidung, die ein vorwiegend auf der Straße geführtes Leben mit sich bringt.

Marokko ist in der illegalen Migration vom subsaharischen Afrika nach Europa zu einer der wichtigsten Transitrouten geworden. Nach Angaben des neuesten Berichts der Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen Frontex, schwammen, ruderten oder robbten in den ersten drei Monaten dieses Jahres rund 1000 Menschen mit Erfolg nach Spanien. Doch bis zu 20.000 stecken zu jedem beliebigen Zeitpunkt in dem fest, was das Institute for Public Policy Research den „Transitmythos“ nennt.

„Transitmythos“ Marokko

Die EU zahlt heute effektiv zehn Millionen Euro pro Jahr an Marokko, damit es die Migranten aus dem EU-Gebiet fernhält. Ein Sprecher der Europäischen Kommission weigerte sich, die aktuellen Beträge genauer zu nennen, und erklärte mir, das Geld werde dazu genutzt, „die Kapazitäten der marokkanischen Behörden zu verstärken... in verschiedenen Bereichen der Migration, darunter auch im Grenzmanagement“

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Das Problem dabei ist, dass die marokkanische Polizei die Migranten regelmäßig in ihren Menschenrechten verletzt. Die Migranten werden von Banden geführt, entweder über Mauretanien und die marokkanische Küste hinauf, oder über Südalgerien und Niger bzw. Mali. Die teuerste Route führt mit kleinen Booten über Tanger. Zum Preis von 450 Euro – mit inbegriffen sind eine Schwimmweste und ein Paddel – ersteht man bei den Händlern vor Ort seine verzweifelte Reise durch die Dunkelheit, die an einem Strand gleich im Norden der Stadt beginnt. Jeder Migrant, den ich in Tanger getroffen habe, kannte jemanden, der ertrunken ist.

Um die Geschichte der Migranten zu erzählen, musste ich verdeckt ermitteln. Man braucht eine Genehmigung, um in Marokko eine Videokamera zu benutzen, und obwohl ich sie schon im Mai beantragt hatte, wollten die Behörden immer noch „mehr Zeit, um sie zu organisieren“. Als ich in die Stadt Nador im Nordosten Marokkos kam, verstand ich, was es da zu organisieren gab. Die Armee beschäftigt sich mit einer größeren Aufräumaktion in dem bergigen Waldgebiet nahe der Grenze, in dem die Migranten ihre Lager aufgeschlagen haben. An der Bergstraße, die parallel zum Grenzzaun verläuft, überwachten Soldaten – alle 30 Meter stand ein kleiner Trupp – jede Straßenbiegung und jeden Abflusskanal darunter, wobei einer von ihnen immer intensiv die Lücke dazwischen beobachtete. Über ihnen streiften Soldatenzüge fächerförmig durch Bäume und Büsche.

Ein Bericht von Ärzte ohne Grenzen detaillierte dieses Jahr „einen drastischen Anstieg an Beschimpfungen, entwürdigender Behandlung und Gewalt“ gegenüber den Migranten von Seiten der Polizei und der Verbrecherbanden, darunter auch einen „schockierenden“ Grad sexueller Gewalt. Diejenigen, die ich kennen lernte, wurden dadurch nur in ihrer Entschlossenheit bestärkt, nach Norden zu fliehen.

Die EU ist mitverantwortlich

Für zwei spezifische Praktiken muss sich die EU verantworten, denn sie finanziert diese Aktionen. Zum ersten ist da die angebliche Rückführung von Bootsflüchtlingen, die in spanischen Gewässern aufgegriffen wurden, auf marokkanisches Hoheitsgebiet – was einer Verletzung des Asylrechts gleichkommt. Zweitens werden in Marokko festgenommene Migranten im Ödland jenseits der algerischen Grenze ausgesetzt, und das ist eindeutig illegal. Die Ironie dabei ist, dass Marokko selbst ein Land ist, aus dem viele – sowohl legale als auch illegale – Migranten in die EU reisen. Tausende von leeren Wohnhäusern, die das Brachland in den marokkanischen Vororten entstellen, bestätigen den Weggang von 4,5 Millionen marokkanischen Bürgern.

Mache dieser Häuser sind gebrauchsfertige Slums, in denen die afrikanischen Migranten leben können. Während in einem dieser Slums in Tanger der Teekessel kocht und ein Dutzend Männer auf abgenutzten Kissen und Deckenfetzen herumliegen, fragen sie mich aus: „Warum sind die Europäer so entschlossen, uns nicht hereinzulassen?“ Ich sage ihnen die brutale Wahrheit: Weil viele arme weiße Menschen denken, dass ihr kommt, um ihnen ihre Arbeitsplätze zu stehlen, die Löhne zu senken und ihre Kultur zu zerstören. Die Männer sehen verwundert aus. Ibrahim sagt: „Aber sie sind doch auch in mein Land gekommen. Und sie unterstützen den Präsidenten, dieses Arschloch, das es zerstört und uns das Leben dort unmöglich macht.“ Die Männer nehmen den Rassismus zur Kenntnis, der sie erwarten wird, falls sie nach Europa gelangen – doch sie sagen, hier sei es schlimmer.

78.000 illegale Grenzübergänge nach Europa

Die meisten von ihnen werden nicht von der Verfolgung sondern von der Armut nach Norden getrieben. Es gibt einen ökonomischen Anziehungsfaktor. Mustapha und Josui sind Maurer aus Dakar. Sie haben einen Cousin in Limoges, Frankreich, und sie meinen, sie können dort Arbeit bekommen. Mit 78.000 illegalen Grenzübergängen nach Europa im vergangenen Jahr glauben sie zu Recht, dass sie eine mehr als geringfügige Chance haben, tatsächlich bis dorthin zu kommen.

Es macht durchaus Sinn, dass Europa Marokkos darin unterstützen will, seine Seite der Grenze zu überwachen. Es ist quasi ein Polizeistaat, aber ein halbherziger: Polizeisperren werden alle paar Kilometer positioniert, anstandshalber gerade noch weit genug von den Ständen mit Schwarzbenzin und von den Haschischrauchern. Was keinen Sinn ergibt, ist, dass Europa die Verstöße gegen die Rechte der Migranten toleriert. Außer natürlich, falls das Ganze wie beim scharfen Vorgehen gegen die Asylanten in Griechenland dazu konzipiert ist, sich massiv über das offizielle Engagement für eine legale und humane Behandlung hinwegzusetzen und die Anwärter von der Reise abzuschrecken. Je besser Frontex arbeitet, desto stärker wird der Druck in Ländern wie Marokko und es wird kaum Rücksicht auf die Menschenrechte und die massiven Armutsprobleme in der eigenen Bevölkerung genommen. Wenn etwas erst einmal jenseits der Stacheldrahtgrenzen Europas passiert, dann verschwindet die Rechenschaftspflicht – und sogar die Fähigkeit, über die Fakten Bericht zu erstatten. Darin liegt der Unterschied.

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