Paul Lendvai bei einer Lesung in Graz, Österreich, November 2010.

Die unbewältigte Vergangenheit

Dem Journalist und eminenten Ungarn-Spezialist Paul Lendvai wird Kollaboration mit dem ehemaligen kommunistischen Regime vorgeworfen. Eine weitere Polemik in einem ohnehin schon angespannten politischen Kontext.

Veröffentlicht am 2 Dezember 2010 um 17:30
© Peter Purgar  | Paul Lendvai bei einer Lesung in Graz, Österreich, November 2010.

Die Enthüllungen haben in den ungarischen Medien wie eine Bombe eingeschlagen. Am 18. November veröffentlichte das Wochenmagazin Heti Válaszfünf angeblich belastende Dokumente aus den Archiven des Außenministeriums, die beweisen würden, dass der Journalist Paul Lendvai mit dem kommunistischen Regime kooperiert hätte.

Der seit 1956 im Zuge des Ungarn-Aufstands in Wien lebende Paul Lendvai ist der angesehenste Kommentator der politischen Landschaft seines Heimatlands. In seinem jüngst veröffentlichten Buch „Mein verspieltes Land“ zeichnet er das düstere Bild eines Ungarns, das von Rassismus und Antisemitismus heimgesucht wird.

Destabilisiert von den Enthüllungen des Magazins, weigerte sich Paul Lendvai, auf Fragen von Journalisten zu antworten. Er erklärte lediglich, dass er derzeit unter Polizeischutz stehe. „Es ist ja wohl nicht verwunderlich, dass niemand, ohne dazu gezwungen zu sein, sagt: 'Ich war ein Mistkerl und bitte um Verzeihung.' Das ist die Regel, nicht die Ausnahme. So ist die menschliche Natur“, kommentiert László Tamás auf der Website hirszerzo.

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Doch fügt der eher als links eingeordnete Journalist hinzu: „János Martonyi oder Pál Schmitt wollten leben. Gut leben. die beiden ehemaligen Parteifunktionäre des kommunistischen Regimes sind heute respektive Außenminister und Staatspräsident. Paul Lendvai auch — und so wurde er im Westen zum größten Spezialisten der ungarischen Politik. Und zahlte den Preis, den die Diktatur von ihnen forderte. Heute müssen sie den moralischen Preis zahlen, den die Demokratie ihnen wegen ihres Opportunismus abverlangt.“

Sechs Monate nach dem souveränen Sieg der [rechtskonservativen] Fidesz bei den Parlamentswahlen und während sich Ungarn auf die Ratspräsidentschaft der Union vorbereitet, ist diese Polemik eine weitere Kontroverse rund um die Politik von Ministerpräsident Viktor Orbán, dem viele ein Abdriften in Richtung Autoritarismus nachsagen.

Der sozialistische Ex-Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány gehört zu den wenigen, die für Paul Landvai Partei ergreifen. Auf seinem Blog schreibt er: „Ich bin angewidert. Dieser Skandal hat nur zur Hälfte mit Lendvai zu tun. In Wirklichkeit spricht er von der ungarischen Rechten. [...] Ich persönlich unterstütze ihn bei seinem Kampf, die Entscheidungen von damals zu rechtfertigen. [...] Wir sollten aufhören, immer in der Vergangenheit zu stöbern.“

Im unabhängigen Wochenmagazin HVG notiert János Pelle: „Viele erwarten, dass Orbán, anstatt die Demokratie zu konsolidieren, ein autoritäres Regime nach Putins Vorbild etablieren will, um dauerhaft an der Macht zu bleiben. Nur mit Fakten und konkreten Gesten kann er diesen Vorwurf entkräften.“ Doch fragt sich der Journalist und Professor an der Rabbinerschule Budapest, „wieso die westlichen Journalisten sich stets nachsichtig mit linksgerichteten Regierungen zeigen, aber bei Orbán immer gleich die Gefahr des Faschismus heraufbeschwören?“ (js)

Kontext

Starjournalist am Pranger

„Paul Lendvai findet den Vorwurf, dass er Agent des kommunistischen Regimes gewesen sei, lächerlich. Recht hat er. Der Wiener Journalist, Spitzenfunktionär der Sozialdemokratischen Partei Österreichs, war kein Agent, sondern ein freiwilliger Kollaborateur der Diktatur. Und damit hat er der demokratischen Opposition geschadet und das Andenken an den Aufstand von 1956 beschädigt“, empört sich in Népszabadság Lukács Ádám Petri, dessen Vater György eine prominente Figur des demokratischen Widerstands war.

„Als Paul Lendvai vertrauliche Informationen zu dem in Ungarn geplanten alternativen Kulturtreffen übermittelt, weiß er haargenau, dass sein Verhalten eine Schande ist. Deshalb bittet er die Botschaft um Diskretion“, schreibt Lukács Ádám Petri. „Und sichtlich zufrieden erzählt er den Vertretern der Diktatur, wie er bei Fernsehprogrammen, die er leitete, verhinderte hatte, dass tschechische oppositionelle Demokraten zu Wort kommen konnten.“ Zusammengefasst beklagt der Autor, dass „Lendvai sein Ansehen und sein Wissen genutzt hat, um die ekelerregende Wirklichkeit der Diktatur zu verschleiern.“

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