Nachrichten Europäische Unionsbürgerschaft (2/2)

„Auf die Krise der Institutionen folgt eine europäische Renaissance“

Im zweiten Teil seiner Rede auf der von Trouw organisierten Konferenz zum Thema Europa spricht der niederländische Schriftsteller Geert Mak über die Krise der europäischen Institutionen. Seiner Meinung nach wird diese Krise das demokratische Machtverhältnis zwischen der EU und ihren Bürgern grundlegend verändern.

Veröffentlicht am 4 Oktober 2013 um 11:10

Vor mehr als 130 Jahren, am 11. März 1882, hielt der französische Denker und Polemiker Ernest Renan eine Rede an der Sorbonne, die lange nachwirken sollte. „Qu’est-ce qu’une nation?“ oder „Was ist eine Nation?“ lautete der Titel. „Die Nation ist eine große Solidargemeinschaft, die durch das Gefühl für die Opfer gebildet wird, die erbracht wurden und die man noch zu erbringen bereit ist.“

Es gibt immer noch europäische Denker und Politiker — vor allem in Brüssel —, die am liebsten den Nationalstaat als einen veralteten und gar gefährlichen Mythos des 19. Jahrhunderts wegfegen würden. Sie sehen in der Krise ein Mittel, um nun endlich große Sprünge nach vorn zu machen; sie halten am Traum einer Europäischen Föderation fest. Wendet man Renans’ Aussage jedoch auf unseren Kontinent an, dann ist von so einer europäischen Nation — selbst nach einem halben Jahrhundert — noch wenig zu spüren. Wenn etwas von der Krise und der darauffolgenden Sparpolitik getroffen wurde, dann genau die von Renan hervorgehobene Solidarität sowie der Wille, gemeinsam voranzugehen.

Gutgemeinte Verordnungen aus Brüssel

Aber das ist noch nicht alles. Das Problem mit den europäischen Träumen ist, dass mit dem Verwerfen des Nationalstaats in der Regel auch die Bedeutung des Faktors „Ort“ beiseite geschoben wird. Der semi-illegale Rohmilchkäse vom Markt in Dieppe, das verrauchte Café ohne Toiletten im ungarischen Dorf Vásárosbéc, die Schokolade aus Brügge, die Sonnekollektoren in Neukirch, die U-Bahn-Baustelle in Amsterdam und was nicht alles vom Hagelschlag der gutgemeinten Brüsseler Verordnungen niedergemacht wird.

Dies sind Stück für Stück die Symptome einer Europäischen Föderation, welche im letzten Jahrzehnt vollkommen aus dem Gleichgewicht geraten ist. Zu viele Dinge, die ein normaler Föderalstaat — wie die Vereinigten Staaten — seinen Mitgliedsstaaten überlässt — wie Käse oder Schokolade — werden bei uns von Brüssel aus gesteuert.

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Andererseits liegen Bereiche, die in allen Föderationen mehr oder minder zentral verwaltet werden — wie beispielsweise die Finanzbranche, die Außen- und Verteidigungspolitik — in Europa immer noch in den Händen der nationalen Hauptstädte. Die Bürger Europas spüren das haargenau. Wenn etwas — abgesehen vom Demokratiedefizit — die Unterstützung für Europa untergräbt, dann das.

Einführung eines europäischen Senats

Müssen wir den Nationalstaat in voller Pracht wieder herstellen, wie manche behaupten? Müssen wir dann, ohne die EU, tausend und eine Sache alleine regeln, von der Fangquote bis zu den finanziellen Absprachen in der Energiepolitik? Nicht zu vergessen die Klimafrage, die uns in diesem 21. Jahrhundert eingeholt hat. Ist die Welt nicht schon seit langem den nationalen Bindungen entwachsen?

[[Ob es uns gefällt oder nicht, wir müssen für den allgegenwärtigen europäischen „Raum“ genaue, demokratische kontrollierte Formen finden.]] Das ist schwierig und sehr problematisch, wir können aber unmöglich zurück ins Jahr 1956.

Wenn der Nationalstaat irgendwo einen neuen Raum einnehmen könnte, dann innerhalb der europäischen Demokratie. Man könnte zu Recht für die Einführung eines Europäischen Senats nach amerikanischem Vorbild plädieren, wo das nationale Element im Europäischen Parlament und innerhalb der europäischen Demokratie gestärkt würde. Mindestens ebenso wichtig wird es sein, das nationale Ideal des 19. Jahrhunderts, das „Blut-Sprache-Boden-Ideal“ zu überwinden und in politischere Ideale abzuändern, so wie sie die Amerikaner kennen. Ein Prozess, der in Europa im Moment in vollem Gange ist.

Europäische Renaissance

Es wird nach der Krise zu einer europäischen Renaissance kommen. In welcher Form auch immer. Wir müssen nach der leidgeprüften Europäischen Union einen europäischen Raum erfinden, in dem sich jeder Europäer auf seine Weise wohl und zuhause fühlt. Weniger von Träumen und Idealismus angetrieben als aus bitterer Notwendigkeit. Nicht triumphierend, sondern realistisch und bescheiden.

Erstens, indem die Richtlinien und Institutionen der Europäischen Union dem „Ort“ und allem, was diesem Begriff als Wert verbunden ist, viel mehr Rechnung tragen. Indem alles, was mit diesen Werten zusammenhängt geachtet, gefördert und — so weit wie möglich — gegen die bereits massiven europäischen wie auch globalen Eingriffe geschützt wird.

Dieser Raum muss auch mittels der politischen Debatte geschaffen werden, und sei es nur, damit sich nicht all diejenigen, die sich nicht mehr zuhause fühlen, ausschließlich den Nationalisten und Populisten zuwenden. Es gibt in der Tat Gefühle, die seit jeher von Ultrarechten ausgenutzt werden. Was aber auch damit zu tun hat, dass die progressiven und liberalen Kräfte dem menschlichen Bedürfnis nach einem Ort, nach einem Zuhause und so weiter, viel zu wenig Beachtung geschenkt haben.

Parallelwirtschaft in lokalen Netzwerken

Zweitens kann das Gleichgewicht wieder hergestellt werden, indem viel mehr Augenmerk darauf gelegt wird, was die einzelnen Regionen für Europa bedeuten. Überall in Europa, vor allem im Süden, entstehen derzeit aus der Not heraus Parallelwirtschaften, basierend auf lokalen Erfahrungen und Produkten, auf lokalen Netzwerken — will heißen ohne Zwischenhändler — auf lokalen Kreditgebern und lokalem Vertrauen.

Schließlich kann das Gleichgewicht durch eine Ausweitung des Ortsbegriffs wieder hergestellt werden, was schon seit ein paar Jahrzehnten im Gange ist. [[In zunehmenden Maßen beobachten wir, wie der Ortsbegriff, der „Raum“, den nationalen Rahmen sprengt]]: manchmal handelt es sich um eine Region — oft grenzüberschreitend — manchmal um Dörfer, immer öfter um Städte.

Es sind heute beispielsweise vor allem die Städte, in denen Kreativität und Innovation gedeihen, entgegen allem Pessimismus. Migranten kommen und gehen, Stadträte überwinden nationale Barrieren und tauschen sich untereinander aus, weltweit. Wir sind inmitten eines langen und mühsamen Prozesses, der schon vor der Krise begann und auch nach ihr weitergehen wird: Mit Hinfallen und Aufstehen sind wir auf dem Weg zu einem Europa der Menschen, anstelle eines Europas der Staaten.

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