Nachrichten Östliche Partnerschaft

Warum sich die Ukraine für Europa entscheidet

Sieben Wochen vor dem Gipfeltreffen in Vilnius, sieht es so als, als wolle Kiew ein Assoziierungsabkommen mit der EU unterzeichnen. Dass ausgerechnet der als pro-russisch geltende Präsident Janukowitsch diese Politik vorantreibt, ist eine Ironie der Geschichte.

Veröffentlicht am 7 Oktober 2013 um 15:58

Der von Russland ausgeübte politische und wirtschaftliche Druck hat die ukrainischen Machthaber nicht davon abhalten können, eine strategische Annäherung an die EU voranzutreiben. So hat sich die Regierung einstimmig für das Assoziierungs- und Freihandelsabkommen mit der EU ausgesprochen. Anfang September hatte sich der ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch an die Abgeordneten gewandt, um die nötigen Gesetzestexte für die Unterzeichnung und Ratifizierung des Abkommens mit der EU zu verabschieden. Die Oberste Rada (Parlament) hat sich sofort an die Arbeit gemacht.

Hätte sich irgend jemand während der Orangenen Revolution vor zehn Jahren vorstellen können, dass Janukowitsch und seine größte finanzielle Stütze, der reichste Mann der Ukraine Rinat Achmetow, die „Zugpferde” der Annäherung an die EU sein würden? Sicher nur sehr wenige. Die beiden Männer werden aber weder von den Werten der europäischen Gesellschaft noch von einem ukrainischen Patriotismus, sondern von rein pragmatischen Interessen und einem wissenschaftlichen Kosten-Nutzen-Kalkül angetrieben.

Protektionismus innerhalb der Zollunion

Allem Anschein nach arbeiten die Unternehmen von Rinat Achmetow bereits eng mit den einflussreichsten europäischen Firmen zusammen, damit diese ihre Regierungen zur Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der Ukraine bewegen. Seine unablässigen Beteuerungen, dass sich die Ukraine längst für den Vektor der EU-Integration entschieden habe, brachten Wiktor Fedorowitsch Janukowitsch den Spitznamen Vektor Fedorowitsch ein. Aber wie lässt sich die aktuelle Haltung der ukrainischen Regierung und der großen Wirtschaftsunternehmen erklären?

Kasachische und weißrussische Geschäftsleute sprechen immer offener über die Praktiken. [[Russischen Unternehmen können mit den modernen europäischen oder amerikanischen Firmen auf dem internationalen Markt nicht konkurrieren]]. Deshalb betreiben sie innerhalb der Eurasischen Zollunion Protektionismus und drängen die branchengleichen Unternehmen anderer Mitgliedsländer der Zollunion vom Markt.

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Die Frage ist für die Ukraine nicht ohne Bedeutung, denn ihre Unternehmen sind unmittelbare Konkurrenten für Russland. Das gilt besonders für die Nahrungsmittel-, Chemie-, Auto- und Metallbranche. Zudem hält die fehlende politische Zusicherung einer Senkung der russischen Gaspreise die aktuelle ukrainische Führung von einem Beitritt zur Eurasischen Zollunion ab. Die ukrainische Industrie ist besonders stark vom Gaspreis abhängig. Das könnte theoretisch ein wichtiger Antrieb für gute Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine sein. Dennoch garantiert die Mitgliedschaft in der Zollunion in keiner Weise die Lieferung von Energieressourcen zum Preis des russischen Binnenmarktes. Dies könnte nur mit einem bilateralen Zugeständnis durch Russland sichergestellt werden.

Eine Frage des Respekts

Was kann die Ukraine also von Russland erwarten? Die Frage des gegenseitigen Vertrauens spielt dabei eine große Rolle. Janukowitsch hat sich wiederholt von Russland betrogen gefühlt. Die sogenannten Abkommen von Karkhiv im Jahr 2010 haben einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen. Im Austausch für die Verlängerung der Pachtverträge [russischer] Militärstützpunkte in Sewastopol glaubte der frisch gewählte ukrainische Präsident Janukowitsch, eine nicht unbeträchtliche Senkung des Gaspreises herausgehandelt zu haben. Aber mit der von Gazprom präsentierten Berechnungsformel des Gaspreises hat sich das Abkommen für den ukrainischen Präsidenten in ein komplettes Fiasko verwandelt. Heute zahlt die Ukraine in Europa den höchsten Preis.
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Der Respekt der Prinzipien und die Selbstachtung spielen ebenfalls eine Rolle. Der immer wieder betrogene und sogar gedemütigte Janukowitsch (in diesem Sommer musste der ukrainische Präsident für ein 15-Minuten-Gespräch drei Stunden auf Wladimir Putin warten) will nun dem russischen Präsidenten beweisen, dass er von den russischen Interessen unabhängige Entscheidungen treffen kann. Und er will vor allem deutlich machen, dass die Ukraine kein zweites Armenien ist. [[Die pro-europäische Einstellung des Präsidenten lässt seine Popularität besonders in den westlichen und zentralen, ihm gegenüber eher kritisch eingestellten Regionen des Landes wachsen]]. In Hinblick auf die Präsidentschaftswahlen 2015 ist das für ihn von großer Bedeutung.

Die Situation ist und bleibt paradox. Ein Politiker, der kürzlich noch versprochen hatte, Russisch zur zweiten Amtssprache zur erheben, ohne erkennbare Ideologie oder Werte, der weder die ukrainische Identität noch die eigene Geschichte zur Stärkung der Staatssouveränität hervorhebt, könnte durch großen Zufall als die Führungspersönlichkeit in die Geschichtsbücher eingehen, welche die vor 20 Jahren begonnene „multivektorielle” Politik vollendete und dem Land den Weg zur europäischen Integration wies.

EU-Ukraine

Das Assoziierungsabkommen ist von der Freilassung Julia Timoschenkos abhängig

Bis zur Unterzeichnung des „historischen” Assoziierungsabkommens zwischen der Europäischen Union und der Ukraine muss nur noch eine Hürde genommen werden, berichtet EUobserver:

Die Begnadigung der ehemaligen Ministerpräsidentin Julia Timoschenko, die 2011 wegen „Machtmissbrauchs” zu sieben Jahren Haft verurteilt wurde. Seit ihrem Gerichtsverfahren, das vielerorts als politischer Prozess kritisiert wurde, fordert die EU ihre Freilassung. Anfang Oktober sind Vertreter des Europäischen Parlaments nach Kiew gereist, um dem Staatsoberhaupt Wiktor Janukowytsch einen Brief zu übergeben, in dem sich die frühere Oppositionsführerin bereit erklärt, die Ukraine zu verlassen, um sich in Deutschland medizinisch behandeln zu lassen.

Sollte Janukowytsch Timoschenko begnadigen, stünde der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens nichts mehr im Wege. Dementsprechend könnte das Abkommen bereits während des Gipfels zur Östlichen Partnerschaft beschlossen werden, der Ende November in Vilnius stattfinden wird und die Annäherung der ehemaligen Sowjetrepubliken und der Europäischen Union zum Ziel hat.

Moskau reagierte ganz besonders gereizt auf diese Nachricht und verhängte am 7. Oktober einen sofortigen Importstopp für Milcherzeugnisse aus Litauen. Als offiziellen Grund für das Einfuhrverbot gab Moskau Qualitätsmängel an und führte ins Feld, dass die Hygienekontrollen in diesem Land zu Wünschen übrig lassen.

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