Europa strahlt, doch der Himmel ist schwarz

Das Leben in der EU ist besser als in vielen anderen Teilen der Welt. Doch angesichts der Krise trauen immer weniger Bürger den europäischen Institutionen. Darauf zu reagieren wird die härteste Herausforderung der EU vor den kommenden Europawahlen.

Veröffentlicht am 14 Oktober 2013 um 15:42

Satelliten-Nachtaufnahmen von Europa sind überaus interessant. Weiße, leuchtende Flecken zeigen deutlich, wo sich die größten Ballungsgebiete befinden: Die Beneluxstaaten, Paris und seine Umgebung, das Ruhrgebiet und das Rheintal leuchten ebenso hell wie die Po-Ebene, Rom mitsamt seinen Vororten und der Golf von Neapel. Große weiße Flecken bedecken sowohl Großbritannien, Madrid und Barcelona als auch die portugiesische Küste. Und in Mitteleuropa leuchtet Schlesien am hellsten. Aber auch Prag, Budapest, Warschau und Danzig heben sich deutlich von allen andere Gegenden ab. Und auf dem Balkan leuchten vor allem Athen und Belgrad. Ein bisschen weiter süd-östlich erhellt ein Lichtstreifen den Bosporus: Istanbul, die fabelhafte [Weltstadt]. In Rumänien verbindet ein weißlich leuchtender Streifen Bukarest und Ploiești. Und noch ein bisschen weiter umzäunt ein bis nach Brașov reichender blasser Streifen die Finsternis der Karpaten. Lässt man seinen Blick noch weiter in Richtung Osten schweifen, erblickt man ein paar weiße Punkte (Kiew, Minsk), die bis nach Moskau reichen, das wie eine weißleuchtende Insel inmitten der unendlichen Weiten Russlands schwimmt.

Dieses Bild und das Motto „Handeln. Mitmachen. Bewegen” schmückt das Wahlplakat, mit dem das Europäische Parlament für die Europawahl im kommenden Jahr werben will.

Verblassendes Licht

Dass Bilder mehr sagen als tausend Worte, ist schon so etwas wie eine Binsenweisheit. Und in der Tat zeichnen hunderttausende kleine Lichtpunkte die Umrisse der Union nahezu vollständig nach. Insgesamt strahlt die EU wesentlich heller als der benachbarte Osten Europas und Nordafrika. Dementsprechend nimmt die EU im Vergleich zu vielen anderen Orten auf dieser Welt noch immer einen besseren Platz ein. Zumindest scheint es so, als würden diejenigen, die das Plakat entworfen haben, genau diesen und keinen anderen Eindruck vermitteln wollen. Sieht man sich das europäische Licht aber aus nächster Nähe an, so fängt es an, nach und nach zu verblassen. Die Euro-Krise, die Sparmaßnahmen und die damit einhergehenden sozialen Probleme, aber auch die Frage nach der Zukunftsfähigkeit des europäischen Sozialmodells: All diese Faktoren haben der Glaubwürdigkeit der europäischen Institutionen geschadet, und dementsprechend auch die Glaubwürdigkeit des europäischen Projektes an sich in Frage gestellt.

Laut der jüngsten, im Juli veröffentlichten Eurobarometer-Umfrage haben über 60 Prozent der Europäer kein Vertrauen mehr in die Union. Im Vergleich zu 2007, als die Krise noch kein Thema war, sind es nun fast doppelt so viele. Bei der letzten Europawahl im Juni 2009 lag die Wahlbeteiligung bei etwas mehr als 43 Prozent, und dementsprechend viel niedriger als die durchschnittlichen 60 Prozent bzw. 70 Prozent Wahlbeteiligung, die bei Parlaments- bzw. Präsidentschaftswahlen in modernen Demokratien so üblich sind. Würden [das nächste Mal] noch weniger Wähler zu den Urnen schreiten als vor fünf Jahren, wäre die Legitimität [des Europäischen Parlaments] ganz ernsthaft untergraben. Und das obwohl ihm im Vertrag von Lissabon gerade erst erweiterte Befugnisse zugesichert wurden.

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Mehr Macht für das Parlament

Zum ersten Mal werden die EU-Bürger mit ihrer Stimme bei der Europawahl indirekt mitbestimmen, wer das Amt des Präsidenten der Europäischen Kommission bekleiden wird. Unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Wahl des Europäischen Parlamentes nämlich, wird der Europäische Rat einen Kandidaten für das Amt des Kommisions-Präsidenten vorschlagen. Anschließend muss das Europäische Parlament über diesen Vorschlag abstimmen. All jene, die für das Amt des Präsidenten der Kommission kandidieren, werden auf diesem Weg gezwungen sein, sich um die Unterstützung der Mitgliedsstaaten zu bemühen. Genau wie Lokalpolitiker bei landesweiten Wahlen. Das dürfte die Diskussionen in den Mitgliedsstaaten anregen und den Bürgern die europäischen Problemstellungen näher bringen.

Dabei ist das Europäische Parlament bereits in Entscheidungsfindungsprozesse involviert, die für die EU-Bürger ganz erhebliche Auswirkungen haben: Die Eindämmung haushaltspolitischer Fehlentwicklungen, Antworten auf die Staatsschuldenkrise, sowie die Entkopplung dieser von den Staatsschulden. Ganz zu schweigen von der zentralen Rolle, die das Parlament bei der Annahme des Haushaltsplans spielt. Hinzukommt, dass das Parlament der neuen Gemeinsamen Agrarpolitik und den zukünftigen Regelungen des Schengen-Raumes grünes Licht erteilt hat.

Große Herausforderungen

In den vergangenen Jahren haben die europäischen Institutionen außerdem auf bestimmte Herausforderungen politischer Natur reagiert. Beispielsweise die Ausrutscher, die sich einige Staaten im Bereich der demokratischen Standards und des Rechtsstaats geleistet haben. Hier sind allen voran Ungarn und Rumänien zu nennen, auch wenn das Europäische Parlament nur gegen Ungarn eine Resolution verabschiedet hat.

Welchen großen Herausforderungen sich Europa in Zukunft stellen werden muss, wird unmittelbar davon abhängig sein, welchen EU-Kurs das Europäische Parlament nach der Krise einschlägt. Werden wir in einer stärker vereinten Europäischen Union leben, die dem Modell der „Vereinigten Staaten von Europa” gleicht? Oder werden wir unser Dasein viel eher als ein mehr oder weniger integriertes Staatenbündnis fristen? Oder wird sich die Union womöglich ganz auflösen? [Eines ist jedenfalls sicher:] Auf das zukünftige Parlament warten große Herausforderungen – und zwar in äußerst turbulenten Zeiten.

In der Zwischenzeit aber breitet sich extremistisches Gedankengut aus, dass sich nicht nur dadurch bemerkbar macht, dass „Rand”-Gruppen immer mehr Einfluss und Macht gewinnen. Das Problem ist, dass sich selbst die traditionellen Parteien, die dem Zentrum nahestehen, in extremistischer Rhetorik üben, weil sie verzweifelt versuchen, ihren Stimmverlusten entgegenzuwirken. Und einigen von ihnen gelingt dies sogar. Zumindest in einem gewissen Maße. Anderen wiederum nicht. Eines allerdings steht fest: [[Parlaments- oder Präsidentschaftswahlen gewinnt man meist dann, wenn man im Wahlkampf gegen die EU gewettert hat, anstatt sich für sie einzusetzen]].

Extremisten auf dem Vormarsch

In Österreich hat die „große Koalition” aus Sozialisten und Christdemokraten eine knappe Mehrheit erreicht. Die einzige Partei, die tatsächlich als großer Gewinner betrachtet werden kann, ist die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ), die von Jörg Haider gegründet wurde. (Sie erreichte 21,4 Prozent der Stimmen, fast vier Prozent mehr als bei den vorangegangenen Wahlen.) Und all das spielt sich in Österreich ab: Dem Land, das so stolz auf seine – europaweit niedrigsten – Arbeitslosenzahlen und die Art und Weise sein kann, wie es die Krise gemeistert hat. Und all das hat [das Land] der Erweiterung der EU zu verdanken...!

Und was soll man zu Griechenland sagen? Dort hat das politische Verbrechen den Weg auf die Straße gefunden. Und die Verhaftung der Anführer der Goldenen Morgenröte hat nur dafür gesorgt, dass diese neonazistische Gruppierung noch ‚beliebter’ wird.

Unterdessen zeichnet sich der Wahlkampf in Frankreich im Vorfeld der Kommunalwahlen im März [2014] vor allem dadurch aus, dass sich sowohl die Mitte-Rechts-Partei UMP als auch die Sozialisten ununterbrochen in der Propaganda-Requisitenkiste der [rechtsextremen] Front National bedienen. Aus den leuchtenden Flecken auf dem Werbeplakat für die Europawahl lassen sich viele Schlüsse ziehen. Die wirkliche Frage aber ist folgende: Besteht nicht die Gefahr, dass die dunklen Flecken und ihre politischen Wirklichkeiten die Botschaft der hellleuchtenden Gegenden in den Schatten stellen?

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