Kosovos Premierminister Hashim Thaçi, Kampfname „Die Schlange“ in Brüssel, 2008.

War Europa von Blindheit geschlagen?

Die Veröffentlichung eines Berichts des Europarats vom 15. Dezember, der die führenden Politiker des Kosovo des Organhandels beschuldigt, stellt die wohlwollende Haltung der EU gegenüber Regierungschef Hashim Thaçi und ehemaligen albanischen Separatisten in Frage.

Veröffentlicht am 17 Dezember 2010 um 17:14
Kosovos Premierminister Hashim Thaçi, Kampfname „Die Schlange“ in Brüssel, 2008.

In seinem Bericht beschuldigt der Schweizer Senator Dick Marty – der dafür berühmt ist, dass er als erster die Existenz der geheimen CIA-Gefängnisse für mutmaßliche Terroristen preisgab – „den Premierminister und mehrere Regierungsmitglieder, die einst der kosovarischen Befreiungsarmee UÇK angehörten, direkt für illegalen Organhandel verantwortlich zu sein“, erklärt Le Monde. Marty behauptet, „sechs Haftanstalten in Albanien identifiziert zu haben, in welchen Kosovo-Serben oder pro-serbische Albaner festgehalten wurden. Diese Anstalten seien nach der Kapitulation der Serben gegenüber der NATO im Juni 1999 in Betrieb geblieben“. Diese Situation, so die französische Tageszeitung weiter, „habe sich fortgesetzt, bis die NATO ihre internationalen Truppen entsandte. In Albanien seien die Gefangenen anschließend gefoltert worden“ und man habe manchen von ihnen Organe entnommen.

Illegal entnommene Organe für reiche Kunden aus dem Ausland?

Nicht zum ersten Mal bringe man derartige Anschuldigungen gegen Thraçi und seine Männer vor, heißt es in Le Monde weiter: In ihrem 2008 erschienenen Buch „La Caccia – Io e i criminali di guerra“ (dt.: Im Namen der Anklage. Meine Jagd auf Kriegsverbrecher und die Suche nach Gerechtigkeit) beschuldigte Carla del Ponte, frühere Chefanklägerin des Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien, „bereits die Mitglieder der UÇK, die damals Anführer des bewaffneten Kampfes gegen Serbien waren, von rund 300 in Albanien inhaftierten Gefangenen Organe entnommen zu haben“.

„Kann das sein? Dass auf Anweisung des Premiers eines europäischen Staates einst Menschen verschleppt wurden? Dass er sie umbringen ließ, um den Leichen Organe, zum Beispiel Nieren, entnehmen zu können für reiche Kunden in Deutschland, Kanada, Polen oder Israel, die dafür bis zu 90.000 DM zahlten?“ fragt sich dazu die taz. „Kann es, kurz gesagt, sein, dass Kosovo-Premier Hashim Thaçi, den Berlin, London, Paris und Washington so einhellig unterstützt haben, seine innenpolitische Macht einem durch Verbrechen angehäuften Reichtum verdankt?“

Ein Bericht mit schwerwiegenden Folgen

Wie dem auch sei, laut der Berliner Tageszeitung wird „Martys Bericht [...] schwerwiegende Folgen auf den in Brüssel pompös angekündigten Dialog zwischen Serbien und dem Kosovo haben“. Denn, wie die taz erklärt, „[e]s wird sich kein Serbe finden, der sich mit Thaçi an den Verhandlungstisch setzt. Und ohne Thaçi wird man kaum eine Regierung in Pristina bilden können nach den erst am Sonntag stattgefundenen vorgezogenen Parlamentswahlen.“ Und: „Will die EU-Mission im Kosovo Eulex glaubwürdig bleiben, muss sie nun die Untersuchung gegen Thaçi & Co unvoreingenommen durchführen – was sie bisher vermieden hat. Denn so manche albanische Spitzenpolitiker waren Guerillakommandanten und haben noch heute bewaffnete Gruppen hinter sich.“

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Wie wird Brüssel also reagieren? Schwer zu sagen: „Im September 2010 behauptete der Leiter der Abteilung Kriegsverbrechen der Eulex das Gegenteil, oder fast, von Dick Martys Bericht“, liest man dazu in Le Temps. Nach Angaben des finnischen Polizeibeamten Matti Raatikainen wurden die Anschuldigungen gegen Thaçis Entourage wegen illegalen Organhandels durch „keine Beweise“ untermauert, wie die Schweizer Tageszeitung erinnert.

Und doch, so die Zeitung weiter, „weiß die Europäische Union: Alles, was über Thaçis kriminelle Implikation herauskommt, lässt sie als Angeklagte dastehen. Wie kann weiterhin von Belgrad die Verhaftung des immer noch flüchtigen bosnisch-serbischen Generals Ratko Mladic verlangt werden? Oder wie soll man vor allem denjenigen entgegentreten, die wie der junge nationalistische kosovarische Politiker Albin Kurti den Abzug der Eulex verlangen, weil sie sich mit der machthabenden Elite kompromittiert hat?“

In Wirklichkeit hat die EU kaum eine Wahl

Die Tatsache, dass das Büro von Catherine Ashton, der Hohen EU-Vertreterin für Auswärtige Angelegenheiten, auf den Marty-Bericht reagierte, indem es ihn aufforderte, „Beweise vorzulegen“, spricht Bände, so Le Temps. Die Zeitung meint, die EU habe „in Wirklichkeit kaum die Wahl“. Die (von Spanien, Rumänien, Griechenland, Zypern und der Slowakei immer noch nicht anerkannte) Unabhängigkeit des Kosovo, die im Einverständnis mit den Vereinigten Staaten gebilligt wurde, sei in Brüssel immer als bittere Pille auf dem Weg der zukünftigen Integration des Balkans angesehen worden. (p-lm)

MEINUNG

Der Mythos des „guten Kriegs“ wird begraben

Die grauenhaften Menschenrechtsverletzungen, die der Bericht des Europarats über die mit dem Westen verbündete kosovarische Befreiungsarmee UÇK enthüllte, untergraben die Behauptungen des früheren britischen Premiers Tony Blair, der Krieg von 1999 zwischen der NATO und Jugoslawien sei „ein Kampf von Gut und Böse, von Zivilisation und Barbarei, von Demokratie und Diktatur“ gewesen, so schreibt Neil Clark im Guardian. „Das war eine Erfindung, an die viele Linksliberale glaubten“, meint Clark. „Doch wenn der Westen im Balkan moralisch hätte handeln und die Menschen im Kosovo hätte schützen wollen, dann gab es dafür andere Lösungen als einen Krieg gegen die Serben und auch andere Möglichkeiten als die Unterstützung der UÇK – der gewalttätigsten Gruppe in der politischen Landschaft des Kosovo. Der Westen hätte echte Mehrparteienverhandlungen unterstützen können, oder er anbieten können, bestimmte Sanktionen Belgrads aufzuheben, wenn eine friedliche Lösung für das Kosovo-Problem gefunden würde.“ Der NATO-Einsatz in Jugoslawien, so folgert Clark, sei ebenso unmoralisch gewesen wie der Krieg gegen den Irak im Jahr 2003. „Doch da der Irakkrieg diskreditiert wurde, ist es für die Verfechter des ‚liberalen Interventionismus’ sogar noch wichtiger, weiterhin dafür einzutreten, dass der Kosovo irgendwie doch ein Erfolg war. Durch den Bericht des Europarats über die Verbrechen der UÇK ist diese Position nun viel schwerer zu vertreten.“

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