Ohne öffentliche Meinung kein Europa

Als Presseurop 2009 startete, hätte niemand gedacht, dass der Euro und die Union ins Wanken kommen könnte. Presseurop hat diese Entwicklung mit den Augen der europäischen Printmedien verfolgt und dazu beigesteuert, den Europäern ihren Kontinent näherzubringen sowie den Grundstein zu einer europäischen Öffentlichkeit zu legen, meint José Ignacio Torreblanca.

Veröffentlicht am 20 Dezember 2013 um 15:18

In den letzten viereinhalb Jahren hat uns Presseurop jeden Tag geholfen zu verstehen, was in Europa passiert. Die Website hat einen wesentlichen Beitrag geleistet. Heute sind wir so von der Krise eingenommen und bestrebt, nicht über die vielen Hindernisse zu stolpern, die unseren Weg säumen, dass wir vergessen, einen Blick zurückzuwerfen und darüber nachzudenken, was in den letzten fünf Jahren geschehen ist. Wenn wir es täten, dann würden wir uns daran erinnern, dass uns 2008/2009 das Wort „Krise“ nicht erschreckte.

Wir wissen, dass die Europäische Union aus Krisen entstanden ist. Krisen erschüttern das Fundament der Gemeinschaft, zeigen, dass der gegenwärtige Zustand nicht aufrechterhalten werden kann, zeugen von der Notwendigkeit, einen neuen politischen Kurs einzuschlagen, und offenbaren die Obsoleszenz der Institutionen. Krisen schaffen den Raum, in dem Zukunftsvisionen entstehen, und bilden die Führung heraus, die diese Träume umsetzen wird. Krisen verbinden und ermöglichen uns, die Integration der Union zu vertiefen. Warum haben wir aber heute das Gefühl, dass es dieses Mal nicht so gelaufen ist? Dass es nicht so funktioniert hat, wie es sollte?

Fehlende Flexibilität

Der Hauptgrund dürfte die fehlende Flexibilität der Union sein, die den Schock der Finanzkrise nicht abfedern kann. Die Europäische Union ist vor allem eine Union der Regeln. Wie wir jedoch sehen konnten, waren die Regeln in Bezug auf den Euro unvollständig oder gar fehlerhaft. Sie hinderten die Mitgliedstaaten und deren Institutionen daran, die richtigen Maßnahmen zu treffen (wie die direkte Rekapitalisierung der Banken und den Kauf von Anleihen), mit denen die EU die Krise hätte meistern können.

Jenseits des Atlantiks führten die Vereinigten Staaten, die, wie wir alle wissen, die Finanzkrise auslösten, bereits im Oktober 2008 das TARP-Programm (Troubled Asset Relief Program) zur Stabilisierung des Finanzsektors ein. Präsident Obama startete dann noch ein umfassendes Programm zur Konjunkturbelebung. In beiden Fällen wurden parteiliche und ideologische Meinungsverschiedenheiten beiseitegeschoben, um wirkungsvolle Maßnahmen gegen die Krise zu treffen. Auf dieser Seite des Atlantiks sieht es allerdings ganz anders aus. Sechs Jahre nach dem Konkurs der Lehman Brothers erwägen die Europäer endlich ihr eigenes TARP-Programm (die Bankenunion) und wollen es mit so komplexen und aufwändigen Mechanismen ausstatten, dass es fraglich ist, ob es wirklich zur Überwindung der Krise beiträgt. Auch die europäischen Konjunkturpakete waren lächerlich. Die Ergebnisse der beiden Ansätze sind nicht zu übersehen: Die USA haben die Krise gemeistert, Europa stagniert.

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Gefährliche Improvisation

[[Obwohl die EU fast ein Jahrzehnt brauchte, um den Vertrag von Lissabon auszuarbeiten, enthält er nichts, was ihr in einer existenzbedrohenden Krise helfen könnte]]. Vor dem Hintergrund der politischen Fragmentierung und der fehlenden Führerschaft schreiten die Reform der Euro-Spielregeln und deren Anpassung an die neue Realität nur sehr langsam voran. In dieser Krise hat die Union zwar institutionell und politisch Neues hervorgebracht, aber auch gefährlich improvisiert. In einschneidenden Phasen wie der ersten Rettung Griechenlands oder der Intervention in Zypern hatte man den Eindruck, dass die EU einfach eine Münze wirft und die Augen schließt.

Letztendlich hat die Union, die immer am Rand des Abgrunds steht, die nötigen Entscheidungen getroffen, um den Euro zu retten und den Grundstein zu einer stabilen Zukunft zu legen. Wir haben die Krise gemeistert, aber nur langsam und nicht im Gleichschritt. Eine flexible Struktur kann Schläge abfedern, während eine starre Struktur zerbricht oder Risse bildet. Die Kluft zwischen der politischen Elite und den Bürgern springt heute wohl am deutlichsten ins Auge. Aber das ist nicht die einzige Bruchlinie. Die Krise hat auch Norden und Süden, Peripherie und Zentrum entzweit. Die Spaltung gefährdet die Zukunft der EU. Zudem vertieft sie die Entfremdung zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern des Euroraums. Die Union muss diese Risse kitten, wenn sie überleben will. Sonst wird sie entdecken, dass sie zwar den Euro gerettet hat, das Projekt Europa aber ernsthaft in Gefahr ist.

Eine europäische Öffentlichkeit

Die nahende Europawahl unterstreicht wieder einmal, dass die Europäer immer dann, wenn sie mehr politische Legitimität für die Wirtschafts- und Währungsunion benötigen, der EU gegenüber misstrauischer werden oder sie gar ablehnen. Wenn die Union Demokratie und Effizienz auf einen Nenner bringen kann, erwartet sie eine vielversprechende Zukunft. Der Kitt, der die Risse schließt, heißt allerdings nicht „bessere Kommunikation“, sondern „umfassendere Berücksichtigung der Wünsche der Bürger“ und Verantwortungsbewusstsein.

Der europäischen Integration wird in den einzelnen Mitgliedsländern hohe politische Aufmerksamkeit geschenkt, nicht aber in Brüssel. [[Die Lösung muss jedoch politisch sein, nicht technokratisch, damit die Bürger wieder die Fähigkeit besitzen, in Brüssel die Politik zu betreiben]], die in den einzelnen Staaten nicht mehr betrieben wird. Eine Union der Regeln ist gut, aber die Union, die wir brauchen, ist eine politische Union. Wer hat Angst vor der Politik? Europa kann nicht ohne eine gut informierte Öffentlichkeit bestehen. In den letzten Jahren ermöglichte uns Presseurop, unsere nationalen geistigen Bollwerke zu verlassen. Das Nachrichtenportal hat eine europäische Öffentlichkeit aufgebaut. Wir danken Presseurop dafür und hoffen auf eine baldige Rückkehr.

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