Euroskeptiker: Heilsames Aufrütteln?

Veröffentlicht am 23 Mai 2014 um 22:11

Müssen wir Angst vor den Euroskeptikern haben? Werden die europäischen Institutionen von der vielschichtigen Welle der Kritik an Politik und Existenz der EU selbst, die bei den Wahlen zum EU-Parlament spürbar werden könnte, aus den Angeln gehoben werden? Die Antwort auf beide Fragen lautet Nein.

Im Gegenteil, wir müssen sogar hoffen, dass die Euroskeptiker viele Stimmen bekommen und es die Führungsschicht in den bedeutendsten Ländern ebenso wie das Brüsseler Establishment besorgt stimmt, nicht mehr im Einklang mit einem Großteil der Öffentlichkeit zu sein. Hier schreibt kein Euroskeptiker, im Gegenteil. Man kann nur nicht die Augen verschließen vor der herrschenden Diskrepanz: Auf der einen Seite die zahlreichen Errungenschaften, auf der anderen Seite die Unfähigkeit der politischen Entscheidungsträger, die Bürgerinnen und Bürger auf nationaler wie europäischer Ebene in das europäische Projekt einzubinden, ihm neuen Schwung zu verleihen.

Die Europäische Union hatte die große Chance, einen entscheidenden Schritt nach vorn zu tun, hat diese jedoch nicht ergriffen. Die nun aufkommende Protestwelle (sie vereint Vertreter des Souveränismus, der gegen Abtretung nationaler Kompetenzen ist, und Gegner des Sparkurses, der uns von Brüssel „aufgezwungen“ wurde) ist auf die Verschlossenheit und Blindheit der Eliten gegenüber der großen Krise zurückzuführen.

Die Finanz- und Wirtschaftskrise ist langsam nach Europa gekommen, es war genug Zeit, um ihre Auswirkungen einzuschätzen und Lösungen zu entwickeln. Aber dafür wäre eine gemeinsame Sichtweise notwendig gewesen. Ein klein wenig Hoffnung kam auf, als der britische Premier Gordon Brown bei aller Orientierungslosigkeit der politischen Führungskräfte anlässlich des G8- und G20-Treffens im Oktober 2008 einen Ausweg aufzeigte.

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Leider war dies jedoch nur ein Strohfeuer. Browns politische Schwäche und die Tatsache, dass Großbritannien nicht zur Eurozone gehört, begrub die Chance auf eine intelligente und ausgewogene Krisenbewältigung. Von da an verschlimmerte sich die Krise, und Europa befand sich in einer Spirale nationaler Egotrips, an deren Spitze eine Kanzlerin ohne strategischen Weitblick und Geschichtssinn stand. Hätte sie in ihren Ausbildungsjahren die Dissidentenkreise Ostdeutschlands und Osteuropas frequentiert, wüsste sie genau, wie wichtig Solidarität auch auf europäischer Ebene ist. Doch dem war eben nicht so.

Paradoxerweise bargen die Schwierigkeiten der Jahre nach 2008 eine weitere Chance auf Fortschritte in Sachen europäische Einigung, die ja in der Vergangenheit schon oft erzielt worden waren, als sich Europa unmittelbar vor dem Abgrund doch wieder nach vorn bewegte. Auch angesichts des dramatischsten Ausdrucks der Machtlosigkeit Europas – dem Ausbruch von Gewalt und dem Beginn der Jugoslawienkriege – wusste Europa, wie es zu reagieren hatte (wenngleich es dies mit allzu großer Verspätung tat): schnellstmögliche Integration der Länder Mittel- und Osteuropas.

Nun sind seit Beginn der katastrophalen Entwicklung sechs Jahre vergangen, und abgesehen von der EZB unter Mario Draghi (nicht jener unter Jean-Claude Trichet!) konnte niemand auch nur irgendetwas bewegen: Niemand hätte gleich die Krise lösen müssen, das wäre zu viel verlangt gewesen, doch hätte Europa eine positive Rolle bei der Gestaltung der gesamteuropäischen Wirtschaft erlangen sollen. Europa wirkte tatenlos, unfähig, gab sich wie die böse Stiefmutter. Die strafende Haltung gegenüber Griechenland ist absolut nicht zu rechtfertigen – wenn, dann nur durch eine Argumentation, die leicht rassistisch ausfällt. Genau das Gegenteil von dem Verhalten, das eine Gemeinschaft an den Tag legen sollte, auch gegenüber ihrem „zügellosesten“ Mitglied.

Das solidarische Zugehörigkeitsgefühl, auf dem das europäische Projekt beruht, hat einen Riss bekommen – durch Egoismus, Kleinlichkeit und leichte, gewundene Wege zurück zur nationalen Komponente. Wie hätte die aufgrund des zunehmend schwierigeren Alltags beunruhigte Öffentlichkeit da reagieren sollen, bei all dem Wirbel um die unzähligen großtönenden, aber leeren Versprechungen der letzten Jahre, um die vielen Meetings, bei denen ebenso hehre Aufgaben zu bewältigen waren?

Wie sollte sie schon über die EU denken, wenn weder Solidarität noch konkrete Pläne zu erkennen waren? Da ist es eher undenkbar, dass der Fiskalpakt oder die Bankenunion zur Identitätsstiftung und Vertrauensbildung beitragen können. Es handelt sich natürlich um wichtige Veränderungen, und wir wissen alle, dass die Integration in kleinen Schritten erfolgt – ein wenig vorwärts, dann wieder Innehalten. Doch den mühsamen Mediationen, die die Europäischen Räte mit sich bringen, fehlt es an Energie.

Der letzte wirkliche Elan, der mobilisierte und noch Raum für Träume ließ, war vor mehr als zehn Jahren spürbar, als man die (endlich einmal) mutige Entscheidung zur Osterweiterung der Union traf. Doch auch damals erstickten die Ängste vor polnischen Klempnern – also die Vorstellung einer Invasion von Billigarbeitskräften und einfachen Migranten – den besagten Elan im Keim.

Der aktuelle Kontext ist geprägt von der Wirtschaftskrise, vom Frust über angebliche und tatsächliche Schwierigkeiten der EU, die Bürgerinnen und Bürger vor der Krise zu schützen, und schließlich vom immer deutlicheren Wiederaufflammen nationaler Interessen: Da ist es natürlich extrem mühsam, der europäische Einigung neuen Schwung zu verleihen. Und alles fällt schließlich auf die zurück, die sich nach wie vor stur als Eurofanatiker definieren.

Eine wahre Plage, weil das vereinfachende Denken der Euroskeptiker wesentlich unkomplizierter ist: Wenn Ungewissheit herrscht, ist es nach wie vor eine sichere Lösung, sich einen Sündenbock zu suchen – umso besser, wenn dieser weit weg und undurchsichtig ist wie die Brüsseler „Zwerge“ und ihr Hofstaat. Da ist es schon viel schwieriger, die Erfolge der Einigung aufzuzeigen, die ja doch für alle offensichtlich sind, so klar und deutlich, dass man sie gar nicht mehr bewusst wahrnimmt.

Schließen wir doch die Grenzen wieder, schaffen wir Erasmus und Nachfolgeprojekte ab, führen wir Zölle und Verbrauchersteuern wieder ein, lassen wir jedes Land seinen eigenen Weg gehen – dann werden wir schon sehen, in welch schreckliche Lage uns das bringt! Dies sei den Euroskeptikern gesagt. Man möge sich vergegenwärtigen, was Europa vor der EGKS, dem Vertrag von Rom, Maastricht und schließlich Lissabon war, um nur einige grundlegende Etappen zu nennen. Man erinnere sich an die vier Freiheiten des Maastrichter Vertrages erinnern und an den Vier-Punkte-Plan des Europäischen Rats von Juni 2012 (Bankenunion, Fiskalunion, Wirtschaftsunion und zuletzt politische Union).

Und man möge sich nochmals vor Augen führen, wie Europa nach dem Zweiten Weltkrieg aussah, als es in Trümmern lag.

Altiero Spinelli und Ernesto Rossi hatten es zuallererst verstanden, und zwar besser als alle anderen: Das größte Übel Europas, und nicht nur dieses Kontinents, liegt im Nationalismus. Einen Fremden, Andersartigen, schlicht einen „anderen“, jemanden jenseits des limen, der Grenze, wie die Römer sagten, als Feind zu identifizieren, birgt verheerende Möglichkeiten, wie die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts auf schreckliche Weise gezeigt hat. Die Zeitbombe des Nationalismus tickt allerdings nach wie vor – nun wird es uns, da die Jugoslawienkriege nicht genügt haben, durch die inneren Feinde bewusst.

Das neue, mit Mühe geschaffene und auch recht wacklige Gebäude stellt dennoch einen Versuch dar, innerhalb eines großen Gebietes möglichst keine unüberwindbaren Grenzen zu schaffen. Und genau dieses Gebäude wollen die Euroskeptiker zum Einsturz bringen. Die erneute Hinwendung zu Vaterland und „wirtschaftlicher Souveränität“, das Dichtmachen der Grenzen – alles Rückschritte in eine Vergangenheit, in der nur scheinbar mehr Wohlstand, Unbeschwertheit und Ordnung herrschten.

Gefährliche Illusionen, weil sie nicht realisierbar sind und außerdem die neue, „ungeordnete“ europäische Ordnung, die auf gemeinsamen Prinzipien und Interessen beruht, zerstören. Wobei Europa natürlich in all den Jahren gleichsam zu einer Freihandelszone verkommen ist, sich in Richtung Hardcore-Ökonomismus entwickelt und von der Vergemeinschaftung entfernt hat: Es hat seine ureigene Mission völlig vergessen.

Ist es da noch überraschend, dass die Euroskeptiker im Aufwind sind? Dass angesichts der Risse, die diese Sicht auf die europäische Einigung der öffentlichen Meinung zur EU zugefügt hat, eine Welle der Ablehnung losbricht? Die euroskeptischen Parteien sind das Ergebnis des Unvermögens der europäischen Politiker. Die Politik muss daher einen Weg finden, die entzweiende Kraft dieser Parteien zu mildern. Die Euroskeptiker sind nun zwar auf dem Gipfel ihres Erfolgs, untereinander trennt sie allerdings glücklicherweise vieles: So haben etwa die Nationalpopulisten des Front national und der Lega Nord absolut nichts mit den furchtbar polternden, aber demokratischen Kritikern von Nigel Farages UKIP oder Beppe Grillos Movimento 5 Stelle gemein – ganz zu schweigen von den Neofaschisten der ungarischen Jobbik-Partei. Sie bilden also kein kohärentes und einheitliches Ganzes und werden im nächsten EU-Parlament kaum eine gemeinsame Plattform finden.

Die europäischen Institutionen sind durch einen etwaigen Erfolg [der Euroskeptiker] in keiner Weise gefährdet. Dennoch ist es das erste Mal, dass die Distanz und das Misstrauen, die sich seit längerem in der europäischen Öffentlichkeit breitmachen, so deutlich in der Politik ihren Niederschlag finden. Zum Schluss ex malo bonum: Möge all das die Politiker in den Gängen der noblen Brüsseler Politikgebäude oder in den hektischeren, aber noch immer allzu wirren Gängen der europäischen Hauptstädte auf heilsame Weise aufrütteln!

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