Tallin, Dezember 2010. "Der Euro ist unsere Währung!".

Eurolands sowjetischstes Mitglied

Mit der Einführung des Euro am 1. Januar ist Estland zum westlichsten der nordeuropäischen Länder geworden: Mitglied der NATO, der EU und der Eurozone. Doch die Bemühungen, zu Europa dazuzugehören, rufen im Land Reflexe hervor, die an die sowjetische Vergangenheit erinnern, die das Land an sich zu vergessen versucht.

Veröffentlicht am 26 Januar 2011 um 13:51
Tallin, Dezember 2010. "Der Euro ist unsere Währung!".

Wie Tausende andere Finnen habe ich Sylvester in Tallinn verbracht. Und das zum zweiten Mal in Folge. Hauptgesprächsthema war in diesem Jahr der Euro. „Willkommen im Club derer, die den Griechen und anderen ein komfortables Dasein spendieren“, verspotteten die Finnen ihre estländischen Freunde.

Die Entscheidung Estlands, den Euro einzuführen, wurde in einer glücklichen Zeit getroffen, nämlich bevor die EU entschied, den verschwenderischen Ländern zu Hilfe zu eilen.

Mit der Einführung des Euro ist Estland zum westlichsten aller nordeuropäischen Länder geworden: Finnland gehört nicht zur NATO, Schweden weder zur NATO noch zur Eurozone, Norwegen weder zur EU noch zur Eurozone. Die Norweger verteidigen ihren Erdölexport und die Schweden ihr Bankwesen. Für Estland war der Schritt gen Westen ein unvermeidbarer Schritt, um von Osteuropa Abstand zu gewinnen.

Land ohne Gewerkschaften und Opposition

Doch kaum ist der Euro da, geht die Routine von vorne los. Der Staatshaushalt ist in einer tadellosen Verfassung und die Medien haben nichts Interessantes darüber zu berichten. Die Bereitwilligkeit, mit der Estland die Umstellung zum Euro durchgepaukt hat, begeisterte die Finanzministerien aller Herren Länder. Löhne wurden ohne zu zögern gekürzt und niemand ging deshalb auf die Straße.

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Herr Hetemäki, Verfasser des finnischen Sparplans, kann von solch einem fügsamen Volk nur träumen. Doch in Finnland werden die Dinge nicht so problemlos über die Bühne gehen, und man kann sich auf große Veränderungen nach den Parlamentswahlen im Frühjahr gefasst machen.

Wenn die Esten ihren harten Sparkurs durchgehen ließen, dann zuallererst, weil es in ihrem Land weder Gewerkschaften noch eine parlamentarische Opposition nach westlichen Vorbild gibt. Einzig die Lehrer haben gegen ihre Lohnkürzungen demonstriert und erreicht, dass die Regierung ihren Forderungen nachgab. Was, nebenbei gesagt, die Bedeutung widerspiegelt, die Estland der Bildung einräumt.

Zweitens hat sich die Opposition selbst ein Bein gestellt, indem sie zweifelhafte Beziehungen mit dem lästigen russischen Nachbarn unterhält. Und selbst die Medien wagen es kaum, die Regierung herauszufordern, weil sie fürchten als Anhänger von Edgar Savisaar durchzugehen dem Bürgermeister von Tallinn, der dem russischen Ministerpräsidenten Wladimir Putin nahesteht.

Lieber beim föderalen Europa mitmachen

Auch wenn Estland nicht mehr ein unterjochtes Land ist, findet man dennoch in seiner politischen Kultur mehr Reflexe, die an die Sowjetunion erinnern, als man sich vorstellen würde. Das Fehlen einer Opposition beispielsweise ist etwas, was das Land Europa nicht gerade näherbringt.

Ganz Europa geht derzeit denselben Weg wie Estland. Die Einheitswährung ist mehr als Papier: Sie bringt eine gemeinsame Wirtschaftspolitik mit sich. Und Alternativen dazu gibt es kaum. Wir bewegen uns in Richtung eines föderalen Europas, und wenn es keine neue Wirtschaftskatastrophe geben sollte, kann uns das auch gelingen.

Die kleinen Staaten haben die Wahl: dazugehören oder außen vor bleiben. Insgesamt bringt es sicher mehr ein, am Spiel teilzuhaben als den Zug abfahren zu sehen. (js)

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