Können die Protestbewegungen die Demokratie in Europa retten?

Wie die jüngsten Unruhen im Iran, in Spanien und in der Türkei gezeigt haben, bietet das Internet den Protestbewegungen ein breit gefächertes Instrumentarium, um ihren Forderungen politischen Ausdruck zu verschaffen. Diese Mittel könnten auch in Europa eingesetzt werden, um die aktuelle Krise der Demokratie zu bewältigen, meint ein französischer Ökonom.

Veröffentlicht am 21 Juli 2014 um 10:19

Demokratien erlauben ihren Bürgern zwar, das Regime zu kritisieren und lautstark daran zu zweifeln, dass das System seine Ziele erfolgreich umsetzen kann, doch dürfen wir aufgrund dieser Tatsache nicht über das Ausmaß der Krise der Demokratien und vor allem deren Intensität in Europa hinwegsehen.

Trotz demokratischer Einrichtungen wie allgemeiner Wahlen und Parlamentsabstimmungen glauben viele Menschen, dass ihr Land von einer kleinen Gruppe regiert wird, die nur auf ihre eigenen Interessen bedacht ist.

Die digitale Revolution ermöglicht die gemeinschaftliche Nutzung von Gütern, kostenlosen Inhalten und freier Software, aber die meisten politischen Ideen sind nach wie vor von einem engstirnigen Ökonomismus geprägt.

Es gibt mehr oder minder überzeugende Vorschläge, um die Krise der Demokratie zu bewältigen. Manche machen die rasante Oligarchisierung verantwortlich, das heißt die Zunahme der Ungleichheit und die Art, wie die Interessen der neuen Superreichen bedient werden.

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Andere wieder messen den institutionellen Prozessen in unserer postdemokratischen Gesellschaft und der Rolle der Managementtechniken bei der Vernichtung des sozialen und demokratischen Gewebes mehr Bedeutung bei.

Eine dritte Gruppe unterstreicht, dass die digitalen Revolution einerseits die Fähigkeit großer Konzerne stärkt, mit einer neuen Organisation der Produktion den kollektiven Widerstand zu schwächen, und so die Gesellschaften zu steuern und zu überwachen, und andererseits Einzelpersonen und Gruppen erlaubt, kritisch zu denken, ihre Maßnahmen zu koordinieren, Neuerungen zu fördern und konkrete Alternativen umzusetzen.

Die Anhänger dieser Theorie glauben an die Möglichkeit, die Demokratie wiederherzustellen, obwohl sie zugeben, dass es sehr schwierig sein dürfte.

Der Kampf für die Freiheit im Internet und die Rechte in der digitalen Sphäre, der Einsatz des Internets im Rahmen der Unruhen im Iran, in Syrien, in Spanien und in der Türkei sowie die Commons-Bewegung in Italien und ganz generell in Europa führten zu tiefgreifenden Veränderungen der Beziehungen zwischen der Bevölkerung und ihrer politischen Führung.

Diese Proteste unterscheiden sich deutlich von den Antiglobalisierungsbewegungen des auslaufenden 20. Jahrhunderts.

Die neuen Bewegungen sind im individuellen Ausdruck verwurzelt, ohne im neoliberalen Sinn individualistisch zu sein. Sie wollen Communities aufbauen, die auf Freundschaft, gemeinsamen Interessen bzw. Praktiken oder geografischer Nähe gründen und deren Erzeugnisse auf dem Commons-Konzept beruhen.

Sie zeichnen sich durch die Teilnahme an mehreren Communities oder Aktivitäten aus, die selten die Form einer offiziellen Mitgliedschaft annimmt.

Jede Community stützt sich auf Computernetze und digitale Medien, um sich Gehör zu verschaffen und ihre Maßnahmen zu koordinieren (Softwareentwicklung, E-Protest, digitale Kultur oder lokale Tauschbörsen).

Die Erfolge dieser Bewegungen sind beeindruckend und gehen weit über die Grenzen hinaus, mit denen Interessenverbände wie Nichtregierungsorganisationen konfrontiert sind. [Die neuen sozialen Bewegungen sind mächtiger und ziehen mehr Menschen an, weil sie sowohl radikale politische Reformen anstreben als auch ein besseres Leben versprechen]. Sie feiern nicht nur Siege wie die Ablehnung des ACTA-Abkommens durch das Europäische Parlament oder das Ergebnis des Referendums über die Wasserversorgung in Italien, sondern entwickeln auch neue Technologien wie freie Software oder Open Design und schaffen neue partizipative Prozesse mit neuen Mechanismen wie Nullzinskrediten zwischen Privatpersonen und Crowdfunding auf der Basis von Spenden.

Insgesamt gesehen greifen sie wieder auf die eigenständige Erzeugung von Gütern, Dienstleistungen, Kultur und Wissen zurück. Sie sind aber auch mit Hindernissen konfrontiert, da sie nicht wissen, wie sie sich in Bezug auf die politische und wirtschaftliche Zentralmacht positionieren sollen.

Die ökonomischen und sozialen Vorgaben der herkömmlichen Politik behindern Bewegungen, die nach neuen gesellschaftlichen Lösungen suchen. Trotz der drohenden Umweltkrise und der horrenden Kosten der Aufrechterhaltung des Status quo sind viele Menschen der Meinung, dass jede Weiterentwicklung des Systems unmöglich sei.

Solche Hindernisse könnten bewältigt werden, wie es immer mehr Aussteiger beweisen, welche die Vorteile der neuen Praktiken erkennen und dem System den Rücken kehren.

Angesichts der Einstellung der aktuellen postdemokratischen politischen Führung ist ein allmählicher Wandel eher unwahrscheinlich, werden doch alle radikalen Reformbestrebungen und jede Kritik an der offiziellen Politik als populistische Demagogie angeprangert.

Statt mit diesen Bewegungen neue Koalitionen zu bilden […], stigmatisieren die Politiker sie und schränken sie mit noch strengeren Gesetzen ein.

Sie haben es offensichtlich lieber mit echter populistischer Xenophobie zu tun, weil die dann die Wähler dazu veranlassen können, sie weiter zu unterstützen, als radikalen Reformen den Weg zu ebnen.

Die basisdemokratischen Bewegungen stehen jedoch auch internen Hindernissen gegenüber, vor allem der Schwierigkeit, sich auf eine zentrale Reformplattform zu einigen. Sie nutzen oder entwickeln interessante kollektive Entscheidungsinstrumente wie die Praktiken von Acampada bzw. Occupy Wall Street oder Online-Tools wie LiquidFeedback.

Diese Instrumente sind jedoch nicht dazu geeignet, neue Ideen zu entwickeln. In Spanien entstand ein vielversprechender Ansatz, der die 15M-Bewegung ermöglichte. Die späteren Entwicklungen der Plattform führten zu interessanten Interaktionen mit den Verfechtern radikaler Reformbemühungen.

Netzwerke wie Partido nutzen die digitale Technologie, um ihre Vorschläge auszuarbeiten und sie dann einem breiten Publikum zu unterbreiten. Die Maßnahmen, die daraus entstanden, förderten Podemos und einige anderen Bewegungen, die im Mai 2014 bei den Europa-Wahlen einen durchschlagenden Erfolg erzielten.

Niemand weiß heute, wie sich die Lage entwickeln wird. Führt die Aufrechterhaltung des wirtschaftspolitischen Status quo unweigerlich zur Entwicklung regressiver fremdenfeindlicher und autoritärer Regimes? Oder gibt es genügend progressiv denkende Politiker, die jenen gern mehr Macht geben wollen, die bereits versucht haben, eine neue Zukunft aufzubauen?

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