Der Kanon verbindet nicht

Leitkultur auf dänische Art. Vor fünf Jahren segnete die Regierung eine Liste mit Werken ab, die in Zeiten von Immigration und Globalisierung das Dänisch-Sein widerspiegeln. Heute zieht die Presse Bilanz, und das Fazit lautet: der einst so umstrittene Kulturkanon ist längst in Vergessenheit geraten.

Veröffentlicht am 27 Januar 2011 um 15:06

Seit Januar 2006 haben die Dänen ihren Kanon: einen Kulturkanon. Die liberal-konservative Regierung erstellte ihn, um das Landeskulturerbe zu stärken und bekannt zu machen. Die vielen vom damaligen Kulturminister Brian Mikkelsen geschaffenen Gremien erkoren 108 Werke aus Literatur, Kino, Musik, Theater, Architektur, Design, Bildende Künste und Kinderkunst aus. Unter ihnen: Die kleine Meerjungfrau, Novellen von Karen Blixen, Lars von Triers Film Idioten, die Lego-Steine, Wikingerschiffe und Donald Duck, der einem dänischen Kopf entstammt.

Der Kanon kam in Form eines Buches auf dem Markt, in dem jedes einzelne Werk beschrieben war. Dann erklärte Brian Mikkelsen, dass seine Initiative Teil des Kampfes gegen antidemokratische Tendenzen einiger muslimischer Einwanderer-Milieus sei. - Und befeuerte damit eine ideologieschwangere Debatte in der dänischen Öffentlichkeit.

Schluss mit politischer Korrektheit

Fünf Jahre später haben sich die heftigen Diskussionen um dieses Unternehmen größtenteils beruhigt. „Dass die Einführung des Kultur-Kanons einst solchen Wirbel machte, lag nicht so sehr an seinem Inhalt“, schreibt Berlinske. „Es ging vielmehr darum, dass eine nicht-sozialistische Regierung etwas wagte, was jahrzehntelang verpönt war: klipp und klar sagen, dass manche Dinge besser sind als andere; und das Zeichen setzen, dass wir – selbst als moderne Gesellschaft in einer globalisierten Welt sind – als Nation zahlreiche Verdienste errungen, und das Recht haben, darauf stolz zu sein, ohne dafür gleich als Hurrapatrioten oder Nationalromantiker abgestempelt zu werden.“

Tatsächlich, stellt die Tageszeitung fest, „ist es heute kein Tabu mehr, in einer Kanon-Logik zu denken“. Jedoch sei es „möglich, dass der Kulturkanon weder gelesen oder genutzt wird. Sein realer Einfluss ist schwer messbar. Er war nur ein Angebot, keine Verpflichtung. Heute steht er jedenfalls für ein neues Zeitalter, in dem wir es gewagt haben, uns nicht unserer selbst zu schämen, und wieder einen Unterschied zwischen Gutem und weniger Gutem zu machen.“

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„Dass die Bevölkerung die Möglichkeit hat, die bedeutendsten Werke unseres Landes zu studieren, ist weder nationalistisch noch eine staatliche Pflicht. Es ist gesunder Menschenverstand“, meint Kristeligt Dagblad. Die protestantische Tageszeitung sieht in dem Kanon sogar noch mehr. Sie hat beobachtet, dass „in den fünf Jahren seit Bestehen des Kanons der Druck auf die Unterhaltungsindustrie gestiegen ist. Der X-Faktor-Trend [eine Sendung, in der „Normalos“ zu Stars werden können] hat zugenommen. Um dagegen zu kämpfen, ist so ein Kanon nicht die allerschlechteste Waffe.“

Übertriebenes Dänentum verstärkt Feindbilder

Sich aber das „Dänischsein“ auf die Fahnen zu schreiben, während die Einwanderungsproblematik für Spannungen sorgt und die Regierung im Parlament nur dank der Rechtsextremen die Mehrheit hält, bietet natürlich reichlich Stoff für Kontroversen. In Politiken wendet sich die Kolumnistin Rushy Rashid direkt an Brian Mikkelsen, der aus dem Kulturministerium mittlerweile ins Wirtschafts- und Arbeitsministerium gezogen ist: „Der Kultur- und Wertekampf, den Du mit Deinem Kulturkanon zu führen versuchst, hat nur die Kluft [zwischen Dänen und Nicht-Dänen] verbreitert, und die Bedrohungs- und Feindbilder unserer Gesellschaft verstärkt.“

„Warum diskutieren wir eigentlich immer noch, ob wir eine multikulturelle Gesellschaft sind“, fragt die Journalistin. „Warum machen wir das nicht einfach an unseren Taten fest?“ Rushy Rashid empfiehlt Dänemark, dem Beispiel Großbritanniens, Schwedens oder Frankreichs zu folgen. Dort seien die Menschen stolz auf die Romanautorin Zadie Smith, Tochter einer jamaikanischen Mutter; auf den Schriftsteller Jonas Hassen Khemiri, Sohn eines Tunesiers; und auf die Comiczeichnerin iranischer Herkunft, Marjane Satrapi. (jh)

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