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Multikulti kriegt noch einen ab

Vor wenigen Monaten erklärte Angela Merkel, dass Multikulti in Deutschland „schlichtweg gescheitert“ sei. Am 5. Februar griff David Camerons Rede das umstrittene Urteil der Kanzlerin auf und entfacht die Debatte um die nationale Identität in der britischen Presse.

Veröffentlicht am 7 Februar 2011 um 16:30
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„Im Namen der Staatsdoktrin des Multikulturalismus haben wir verschiedene Kulturen ermutigt, voneinander abgeschottet und weit vom Mainstream entfernt zu leben. Wir haben keine Gesellschaft angeboten, in der sie sich hätten wiederfinden können und zu der sie dazugehören wollten“, erklärte David Cameron bei der Internationalen Sicherheitskonferenz in München. Für den britischen Premier führte das auch dazu, dass „so manch einer vor den Schrecken einer Zwangsheirat die Augen verschließt“, ist eine Grundursache für Radikalisierung und könne dann in Terrorismus münden.

Cameron erklärte, dass Großbritannien einen „muskulösen“ Liberalismus einschlagen müsse, um Werte wie Gleichheit, Gesetz und Redefreiheit in allen Teilen der Gesellschaft durchzusetzen. Muslimischen Gruppen, die die Frauenrechte nicht anerkennen oder sich nicht für Integration einsetzen, drohte er die Streichung staatlicher Hilfen an. Alle britischen Einwanderer müssen die englische Sprache beherrschen und von den Schulen wird erwartet, dass sie landesweit ein und dieselbe Kultur unterrichten.

Moralischer Relativismus: Todesstoß einer Zivilisation

Aus den Reihen der oppositionellen Labour Partei und muslimischen Gruppen wurde die Rede augenblicklich für ihren „grob vereinfachenden“ Ansatz vernichtend kritisiert. Viele beklagten, dass Cameron sie gerade an dem Tag hielt, an dem die bisher größte Demonstration (3.000 Menschen) der politisch am rechten Rand stehenden English Defence League in Luton bei London aufmarschierte. Nach Angaben des Guardian habe ein Anhänger gesagt: „Wenn er [David Cameron] sich für uns stark machen will, ist das riesig!“

Für die zufriedene Times reicht das multikulturelle Glaubensbekenntnis der „Toleranz“ in unseren problembeladenen Zeiten nicht mehr aus. „Extremisten haben sich [dieses Konzept] zunutze gemacht. Und der Strudel aus verworrenen Identitäten und pervertierter Religiosität hat die Terroranschläge vom 7.7., dschihadistische Hetztiraden und den Kult des terroristischen Märtyrertums hervorgebracht. Was Burke [Philosoph aus dem 18. Jahrhundert] einst sagte, haben viele im Land nun begriffen: Das Böse triumphiert allein dadurch, dass gute Menschen nichts unternehmen.“

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„Multikulturalismus gehört zum viel weiter verbreiteten europäischen Phänomen des moralischen Relativismus“, verschafft sich Jonathan Sacks in den Seiten der Londoner Tageszeitung Gehör; „eine Doktrin, die als Antwort auf den Holocaust an Einfluss gewann. Da erklärte man, einen Standpunkt zu moralischen Fragen einzunehmen, sei ein Zeichen für eine ‚autoritäre Persönlichkeit‘. Das Fällen moralischer Urteile wurde als erster Schritt auf dem Weg zum Fanatismus angesehen. Dabei versetzt der moralische Relativismus einer Zivilisation den Todesstoß.“

Millionenfache Ausgabe des Konsumenten-Kapitalismus

„Als er [David Cameron] in München seiner Meinung Luft machte, verbündete er sich mit der grässlichen Angela Merkel“, wettert Independent-Kolumnistin Yasmin Alibhai-Brown und fügt hinzu, dass es „eine Schande“ sei, bei einer internationalen Sicherheitskonferenz eine Rede über innere Angelegenheiten zu halten. „Ich verstehe, dass unsere Bürger von solchen britischen Muslimen die Nase voll haben, die unzählige Forderungen stellen, voller Zorn sind, mörderische Pläne hegen, oder sich für das Leben in Ghettos entscheiden. Jedoch ist die überall im Land verbreitete Unzufriedenheit das Ergebnis der Politik, die von der Regierung durchgedrückt wird [z.B. die gewaltigen Sparprogramme]. Muslime und Einwanderer werden dazu benutzt, die Leute von dem geplanten Chaos abzulenken, das diese unbeliebte Koalition veranstaltet.“

Im Guardian spinnt Madeleine Bunting die Idee noch weiter: „Camerons Rede ist ein klarer Fall für eine an eine starke nationale, kollektive Identität gebundene Nostalgie und gemeinsame Werte. Jedoch haben sämtliche Typen kollektiver Identität nach einer individualisierten und globalisierten Generation ausgedient, oder wurden über Bord geworfen. Viele der Institutionen, die für die nationale Einheit standen, haben an Bedeutung verloren – ganz gleich, ob es sich dabei um politische Parteien, Gewerkschaften oder christliche Kirchen handelt. Das institutionelle Gewebe, in welchem wir diese Werte zum Ausdruck gebracht haben, wurde ausrangiert. An seine Stelle ist die individuelle Freiheit getreten. Die „Gesellschaftsvision”, die Cameron als so dringend notwendig erachtet, gibt es eigentlich schon lange: In der millionenfachen Ausgabe des 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche funktionierenden Konsumenten-Kapitalismus. Und sie fördert die Habgier.“ (jh)

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