Anhänger der radikalen moslemischen Predigers Sheikh Abu Hamza vor der Moschee Finsbury Park in London, 28. Mai 2004.

Toleranz heißt nicht Gleichgültigkeit

Zuerst Merkel, dann Cameron und jetzt Sarkozy. In ganz Europa sitzen der Multikulturalismus und sein Vermächtnis auf der Anklagebank. Doch dem Soziologen Frank Furedi zufolge stiftet der Multikulturalismus Uneinigkeit, weil er eine verwässerte Form der Toleranz fördert.

Veröffentlicht am 11 Februar 2011 um 17:35
Anhänger der radikalen moslemischen Predigers Sheikh Abu Hamza vor der Moschee Finsbury Park in London, 28. Mai 2004.

Die Ablehnung des staatlich geförderten Multikulturalismus durch den britischen Premierminister David Cameron war schon lange fällig. Cameron hat ganz recht, wenn er sagt, dass der Multikulturalismus entzweiend und zersetzend wirkt. Er sollte allerdings dessen Probleme nicht auf die Toleranz schieben. Während der ganzen Rede, die er anlässlich einer Sicherheitskonferenz am 5. Februar in München hielt, behauptete er irrtümlicherweise, die Toleranz sei sowohl für das Scheitern des Multikulturalismus als auch für den Zuwachs des islamischen Terrorismus verantwortlich. „Offen gesagt, wir brauchen viel weniger von der passiven Toleranz der letzten Jahre und viel mehr aktiven, muskulösen Liberalismus“, sagte er.

Aber was ist „passive Toleranz“? Toleranz ist alles andere als passiv. Toleranz erfordert Mut, Überzeugung und ein Bekenntnis zur Freiheit – charakteristische Merkmale eines zuversichtlichen, aktiven öffentlichen Ethos. Toleranz erhält Gewissensfreiheit und individuelle Autonomie aufrecht. Sie bestätigt das Prinzip der Nichteinmischung in das innere Leben der Menschen, in ihr Befolgen bestimmter Überzeugungen und Meinungen. Und so lange eine Handlung nicht anderen Leid zufügt oder ihre moralische Autonomie verletzt, verlangt die Toleranz auch keine Beschränkung des Verhaltens, das mit der Ausübung der individuellen Autonomie zusammenhängt. Aus dieser Perspektive heraus verkörpert die Toleranz das Ausmaß, in welchem die Überzeugungen und Verhaltensweisen der Menschen keiner institutionellen oder politischen Einmischung oder Einschränkung unterliegen.

Es ist nicht einfach, tolerant zu sein. Es erfordert eine Bereitwilligkeit, Ansichten zu tolerieren, die man selbst anstößig findet, sowie eine Bereitschaft, zu akzeptieren, dass keine Ansicht außer Frage stehen sollte. Das Tolerieren von Gesichtspunkten, die unseren eigenen entgegengesetzt sind, verlangt einen Grad an Vertrauen in unsere eigenen Gewissheiten und auch eine gewisse Risikobereitschaft. Toleranz unterstützt die Freiheit der Individuen, bestimmte Überzeugungen zu verfolgen, und gibt der Gesellschaft im weiteren Sinn eine Gelegenheit, einen Einblick in die Wahrheit zu gewinnen, indem sie zu einem Zusammenprall von Ideen ermutigt.

Vermeidungsstrategie, sich für wahre Werte zu entscheiden

Multikulturalismus hat nichts mit echter Toleranz zu tun. Multikulturalismus verlangt keine Toleranz, sondern nachsichtige Indifferenz. Er fördert schonungslos den Gedanken von „Akzeptanz“ und bringt davon ab, die Überzeugungen anderer Menschen und Lebensweisen in Frage zu stellen. Sein vorherrschender Wert ist die Wertneutralität. Und doch sind Wertung, Kritik und Beurteilung jeweils entscheidende Merkmale jeder aufgeschlossenen, demokratischen Gesellschaft, die diesen Namen verdient. Obzwar der Unwille, die Verhaltensweisen anderer Menschen zu bewerten, durchaus seine Reize hat, verwandelt er sich allzu oft in eine oberflächliche Indifferenz, in einen Vorwand, um abzuschalten, wenn andere sprechen.

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Wie das Konzept der Toleranz mit dem Gedanken des Akzeptierens aller Lebensweisen verwechselt wird, ist in der „Erklärung von Prinzipien der Toleranz“ der UNESCO auffallend illustriert. Dort heißt es: „Toleranz bedeutet Respekt, Akzeptanz und Anerkennung der Kulturen unserer Welt, unserer Ausdrucksformen und Gestaltungsweisen unseres Menschseins in all ihrem Reichtum und ihrer Vielfalt.“ Für die UNESCO ist Toleranz auch „Harmonie über Unterschiede hinweg“. Sie wird zu einer ausdehnungsfähigen, diffusen Empfindsamkeit, die automatisch bedingungslosen Respekt für unterschiedliche Ansichten und Kulturen bietet.

Die Neuinterpretierung der Toleranz als Wertneutralität wird oft als etwas Positives gesehen. In Wahrheit können Zustimmung und Akzeptanz als ein Weg gesehen werden, mit dem vermieden werden soll, schwierige moralische Entscheidungen zu treffen, und auch als ein Weg, mit dem man sich von der Herausforderung lösen kann, erklären zu wollen, welche Werte es sich aufrechtzuerhalten lohnt. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum die nachsichtige Gleichgültigkeit des Multikulturalismus in den letzten Jahrzehnten so viel Zugkraft gewonnen hat: In Großbritannien und vielen anderen europäischen Gesellschaften hat der Multikulturalismus es den Regierungen erspart, zu verdeutlichen, welche Prinzipien ihre Lebensweise untermauern.

Eines sei Cameron zugute gehalten: Nach seiner Feststellung, der staatliche Multikulturalismus habe die Segregation der unterschiedlichen Kulturen gefördert, schnitt er eine unbequeme Wahrheit an – nämlich, dass es „uns misslungen [ist], eine Vision der Gesellschaft vorzustellen, die ihnen das Gefühl gibt, ihr angehören zu wollen“. Das Fehlen einer solchen Vision ist kein Zufall, denn der Multikulturalismus verlangt, dass kein Wertesystem als einem anderen überlegen oder als die wünschenswerte Norm gilt. Aus der multikulturellen Perspektive ist das Fehlen einer Vision für eine Gesellschaft kein Scheitern, sondern eine Errungenschaft.

In jeder ernsthaften Diskussion über das Problem der kulturellen Integration sollte der Fokus wohl darauf liegen, dass die Werte, die die Gesellschaft in sich binden, nicht aufgezeichnet werden und ihnen auch keine Bedeutung verliehen wird. Es ist immer verlockend, die Schuld zum Beispiel professionellen Extremisten zuzuweisen, die junge Muslime radikalisieren. Doch was oft übersehen wird, ist, dass nicht so sehr die Verlockung des Radikalismus diese Probleme hervorruft, sondern der eigene Widerwille der Gesellschaft, sich mit ihren Bürgern zu befassen und sie zu begeistern.

Unseren Gesellschaften fehlt der Wertekonsens

Seit einiger Zeit finden es viele europäische Gesellschaften nun schwierig, einen Konsens zu bilden, durch den sie vergangene Errungenschaften und die von ihnen hochgehaltenen Grundwerte bekräftigen könnten. Traditionelle Symbole und Konventionen haben viel von ihrer Kraft eingebüßt, sie begeistern nicht mehr; in manchen Fällen wurden sie unwiderruflich geschädigt. Dies zeigt sich ganz auffällig in der ständigen Kontroverse um die Geschichtslehre. Wenn die führende Generation spürt, dass die Geschichten und Ideale, mit denen sie aufgewachsen ist, in unserer veränderten Welt „ihre Relevanz verloren haben“, dann findet sie es sehr schwierig, diese Geschichten und Ideale überzeugend an ihre Kinder weiterzugeben.

Dennoch erkennen politische Entscheidungsträger und Erzieher intuitiv, dass die Frage behandelt werden muss. Dabei gelingt es selten, „relevante“ Werte auf Verlangen bereitzustellen – denn anders als die Bräuche, die organisch mit der Vergangenheit verbunden waren, sind diese Werte oft künstliche, wenn auch gut gemeinte Konstruktionen, die Anfechtungen ausgeliefert sind. Anders als die als heilig erachteten Bräuche und Sitten müssen konstruierte Werte regelmäßig gerechtfertigt werden.

Es macht wenig Sinn, dem Multikulturalismus weiterhin an den tiefgründigen Problemen, denen wir heute gegenüberstehen, die Schuld zu geben. Auf jeden Fall sollten wir dem staatlich geförderten Multikulturalismus ein Ende setzen, denn das würde uns zumindest erlauben, uns dem unterschwelligen Problem zu stellen: der gesellschaftlichen Krise der Werte und des Bedeutungsvollen. Doch verringern wir nicht unser Engagement im Streben nach Toleranz. Toleranz bleibt eine wichtige Tugend, denn sie nimmt die Menschen sehr ernst.

„On Tolerance: A Defence of Moral Independence“ von Frank Furedi wird im Juni 2011 von Continuum veröffentlicht. Die Website des Autors finden Sie hier.

Frankreich

Sarkozy plappert Cameron und Merkel nach

„Der Multikulturalismus ist ein Fehlschlag“, erklärte Nicolas Sarkozy in einer TV-Sendung am 10. Februar. Mit dieser Feststellung schließt sich der französische Staatspräsident „den neuen, von Angela Merkel und David Cameron vorgebrachten Dogmen“ an, laut welchen „das multikulturelle Modell gescheitert“ ist, so Jean-Marie Colombani auf der Website Slate.fr.

Doch für den Journalisten ist das „eine reine Positionierung auf dem Gebiet der Rechten, das von den Rechtsextremen bedroht wäre. Denn es ist nicht erkennbar, welcher Realität das in Frankreich, das noch nie ein multikulturelles Modell angepriesen oder praktiziert hat, entsprechen kann“. „Die Briten geben zu, dass sie in der Tolerierung des radikalen Islam zu weit gegangen sind“, fährt Colombani fort. „Doch dieser Islam wurde in Frankreich nie toleriert und die Kontrolle der Predigten mancher Imame in den französischen Moscheen ist nicht neu.“

Was die deutsche Debatte betrifft, so stellt Colombani nur „bei Angela Merkel eine ausschließlich ideologische Positionierung“ fest, denn sie „erwähnt den Begriff der ‚Nationalkultur’“.

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