Opinion, ideas, initiatives 2016: ein entscheidendes Jahr

Bedeutet der Triumph des Nationalismus das Ende der Union?

Wird die Europäische Union das Jahr 2016 überleben? Noch nie seit dem Beginn der europäischen Integration in den 1950er Jahren hat die EU eine derartige Serie von Schocks erlitten.

Veröffentlicht am 21 Januar 2016 um 10:47

Ich sehe erstmals eine ernsthafte Gefahr des Auseinanderbrechens der EU“, erklärte der deutsche EU-Kommissar für Digitale Wirtschaft und Gesellschaft Günther Oettinger Ende Dezember feierlich. Jean-Claude Juncker, der Präsident der EU-Kommission, sagte er habe „keine Illusionen“ hinsichtlich des gerade begonnenen Jahres und scherzte, er sei noch „zu jung*“ um beurteilen zu können, ob 2015 das schwierigste Jahr in der Geschichte der Union gewesen sei...

Seit 2008 kommt Europa von einer Krise in die nächste. Alles begann mit der amerikanischen Finanzkrise 2007, die sich 2008 zur schwersten Wirtschaftskrise seit 1929 entwickelte und in Europa noch längst nicht überwunden ist. Diese Krise hätte beinahe zum Scheitern der Eurozone geführt und Griechenland hat sich noch immer nicht davon erholt. Die Wagnisse der amerikanischen Außenpolitik, aber auch der britischen und der französischen, haben die Maschrek- und die Maghreb-Länder destabilisiert. In der Folge suchte eine Million Menschen Zuflucht in der EU und der Terrorismus auf europäischem Boden flammte wieder auf. Das ungeschickte Vorgehen der EU-Diplomatie weckte darüber hinaus den russischen Bären und führte zu einer teilweisen Zerschlagung der Ukraine sowie zu seit dem Zusammenbruch des Kommunismus im Jahr 1990 nie dagewesenen Spannungen zwischen Ost- und Westeuropa.

Angesichts dieser vielfältigen Krisen, die die europäischen Staaten nicht immer kommen sahen, die sie aber vor allem nicht vorhersehen wollten (denn dann wären sie gezwungen gewesen, vorsorglich einen Teil ihrer Souveränität abzugeben), hat die EU reagiert. Manchmal war sie erfolgreich, wie zum Beispiel bei der beschleunigten Integration der Eurozone. Aber was mit 19 Ländern schon nur unvollständig möglich war, weil Frankreich sich weigerte, die EU-Verträge neu zu verhandeln, gelang mit 28 Ländern überhaupt nicht: die Flüchtlingskrise, die noch lange nicht vorbei ist, machte die klaffenden Risse zwischen Ost und West deutlich und zeigte, wie schlampig die Umsetzung der EU-Erweiterung gewesen war.

Während für einen Teil der westeuropäischen Länder, vor allem für Deutschland, Asyl und die Achtung von Minderheiten aus einer unruhigen und gewalttätigen Geschichte ererbte Werte sind, trifft dies auf die ehemaligen Volksdemokratien nicht zu: sie sehen sich noch immer als Opfer der Geschichte, die aus diesem Grund zwar Rechte, aber keinerlei Pflichten haben. Sie möchten zwar gerne europäisches Geld und die von der EU garantierten Rechte, aber die Solidarität ist für sie eine Einbahnstraße: daher haben sie sich geweigert, den vom riesigen Zustrom der Flüchtlinge überrollten Ländern zu helfen (obwohl sie für die Situation mit verantwortlich sind, denn auch sie waren 2003 am Irak-Krieg beteiligt) und haben insbesondere die Muslime vehement zurückgewiesen, von denen sie glauben, dass sie sich nicht an die europäische Zivilisation anpassen können... Schnell wurden im Osten Mauern errichtet und die Vorschläge der Kommission für ein gemeinsames Vorgehen stießen bei ihnen ausnahmslos auf Ablehnung.

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Dieser Rückzug auf nationale Interessen wurde durch die Wirtschaftskrise vorbereitet, die den europafeindlichen Populisten den Weg ebnete. Nach 1929 waren mehrere Länder der Meinung, dass der Faschismus die beste Antwort auf die Herausforderungen der Zeit sei. 80 Jahre später stellen extreme Lösungen, die man nunmehr als „Populismus“ bezeichnet, für die Menschen eine ähnliche Versuchung dar: die autoritäre Rechte ist in Polen und in Ungarn an der Macht, sie ist in Belgien, Dänemark und Finnland an der Regierung beteiligt und in Schweden, Frankreich, den Niederlanden und Italien auf dem Vormarsch. Schließlich scheinen nur Deutschland und die Länder, die vor nicht allzu langer Zeit Diktaturen erlebt haben (Spanien, Portugal, Griechenland) dagegen immun. Der islamistische Terrorismus stärkt diese Parteien nur, deren Geschäftsgrundlage die Ablehnung alles Anderen ist.

Das bedeutet, dass das europäische Projekt, dessen Grundlagen Frieden, Toleranz, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Weltoffenheit sind, nicht vom Erfolg verwöhnt ist: angesagt ist zur Stunde die Verteidigung der engstirnigsten, unmittelbarsten und trügerischsten nationalen Interessen.

Wie lange kann die Europäische Union als Projekt, das aus den Trümmern der Nachkriegszeit entstanden ist, der fremdenfeindlichen und paranoiden Welle widerstehen, die unsere alten und erschöpften Gesellschaften zu überfluten droht? Statt sich der öffentlichen Meinung entgegenzustellen und inmitten der Ängste einen Gegenentwurf zu vertreten, wussten die Regierenden Europas nichts Besseres, als den extremistischen Parteien nachzulaufen, wie man derzeit in Frankreich beobachten kann. Nichts scheint mehr die Rückkehr zum Nationalismus einzudämmen, obwohl genau der Europa schon einmal ins Verderben gestürzt hat.

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