Angela Merkel, Matteo Renzi, Jean-Claude Juncker and François Hollande.

Wann kommt das soziale „Triple A“-Rating, Herr Juncker?

Der Arbeitsmarkt bleibt eines der wichtigsten Anliegen der Europäer und stand beim Amtsantritt des Kommissionspräsidenten ganz oben auf dessen Programm. Aber die wachsenden Divergenzen zwischen den Mitgliedstaaten begrenzen seinen Handlungsspielraum. Es wird Zeit, dass die Union gemeinsam handelt und ihre Versprechen einhält, meint ein belgisch Doktorand.

Veröffentlicht am 9 Februar 2016 um 20:08
Angela Merkel, Matteo Renzi, Jean-Claude Juncker and François Hollande.

Bei seinem Amtsantritt hatte der Präsident der Europäischen Kommission „der letzten Chance“ seinen Willen zum Ausdruck gebracht, der Europäischen Union ein soziales „Triple A“-Rating“ zu verschaffen. Über ein Jahr danach braucht die Union nach wie vor dringend „das soziale Europa“. Während die aktuelle Situation vor dem Hintergrund von Entsolidarisierung und tiefen Gräben bei Europa-Befürwortern Enttäuschung und Entsetzen hervorruft, müssen heute mehr denn je die möglichen Wege zur diesem grundlegend sozialen „anderen Europa“ in Erinnerung gerufen werden.

Der Stand der Dinge

Das Sozialwesen liegt in der Kompetenz der Nationalstaaten, aber die europäische Union spielt eine wichtige Rolle. Sie definiert die gemeinsamen Prioritäten und Ziele und ermutigt die Staaten durch den Austausch guter Praktiken zur Kooperation. In diesem Zusammenhang machte die Strategie „Europa 2020“, die auf der Grundlage der Wirtschafts- und Finanzkrise entwickelt wurde, ein ehrgeiziges Versprechen: Die Zahl der Europäer in Armut sollte bis 2020 um 20 Millionen verringert werden.
Nach dem heutigen Stand ist dieses Ziel noch lange nicht erreicht. Die Unterschiede zwischen den Mitgliedsstaaten sind noch größer geworden und die Gesamtsituation [hat sich verschlechtert].

Im Jahr 2013 befanden sich fast 7 Millionen Personen mehr als noch 2008 in Armut oder sozialer Ausgrenzung, das ist fast ein Viertel aller Europäer. Bei der Arbeitslosigkeit wurden im selben Zeitraum 8,5 Mio. Arbeitssuchende zusätzlich gezählt. Besonders betroffen sind junge Leute – fast ein Viertel von ihnen sind derzeit ohne Arbeit. Die Kinderarmut ist besonders besorgniserregend: 26,5 Millionen Kinder sind betroffen, das ist ein Fünftel der Personen in Armut oder sozialer Ausgrenzung.
Die Zahlen sind unstrittig, aber das europäische Ziel der Verringerung der Armut steckt in einer paradoxen Situation fest: Die Mitgliedstaaten sollen ihren Anteil der Menschen in Armut und sozialer Ausgrenzung (unverbindliches Ziel) verringern, aber gleichzeitig eine strenge Haushaltsdisziplin beibehalten (verbindliches Ziel).

Eine instabile Asymmetrie

Die Reformen der wirtschaftspolitischen Steuerung haben dazu geführt, dass die historische Hierarchie der europäischen Integration systematisch festgelegt wurde: Während die soziale Komponente bisher eher bruchstückhaft und jeweils zu einem bestimmten Zweck entwickelt wurde, unterliegt sie heute den gesamtwirtschaftlichen Zielen. Das Ungleichgewicht zwischen europäischen Maßnahmen zur Förderung der Markteffizienz und den Maßnahmen zur Förderung der sozialen Sicherung scheint vor allem zu einer Logik der möglichst geringen sozialen Forderungen zu führen.

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Diese Strategie ist zum Scheitern verurteilt. Teils aufgrund der Dringlichkeit der sozialen Situation und teils aufgrund der moralischen Pflicht zur Solidarität ist das soziale Defizit der europäischen Integration eine Bedrohung für das gesamte europäische Projekt. Ebenso wie das wirtschaftliche Ungleichgewicht bedroht das soziale Ungleichgewicht die Lebensfähigkeit der Währungsunion. Auf Seiten der Politik fördert die dramatische soziale Situation gewisser Länder den Aufstieg des Nationalismus und des Euroskeptizismus in allen Facetten, während die sozialen Unterschiede zwischen den Staaten die Glaubwürdigkeit der Union gefährden.

Wir scheinen in einer Falle zu stecken. Während gemeinsame Lösungen mehr und mehr wünschenswert wären, machen die unterschiedlichen Schwerpunkte der nationalen Politik, der Steuer- und sozialen Schutzsysteme, die durch die Krise noch verstärkt werden, eine Planung dieser Lösungen schwierig.

Geradewegs in den Teufelskreis?

Diese Krise kann paradoxerweise auch eine Chance sein. Wenn das Engagement der europäischen Länder eine unabdingbare Voraussetzung für alle sozialen Reformen ist, ist es an der Kommission, die Initiative für neue Vorschläge zu ergreifen. Der „Grundstock an Sozialrechten“, den Jean-Claude Juncker für 2016 angekündigt hat, ist eine hervorragende Neuigkeit und, bei ehrgeiziger Herangehensweise, ein Schritt in die richtige Richtung.

Er reicht jedoch nicht aus: ein Ansatz für eine systemische Unterstützung sollte ins Auge gefasst werden. Es geht nicht darum, einen europäischen Wohlfahrtsstaat zu schaffen, sondern darum, die nationalen Wohlfahrtsstaaten zu koordinieren. Als Beispiele hier einige Möglichkeiten, getrennt oder gemeinsam eine positive Dynamik für Europa einzuleiten.

Ein europäisches Mindesteinkommen. – das European Anti-Poverty Network (EAPN) schlägt eine Rahmenrichtlinie über das Mindesteinkommen vor, um jedem das Recht auf ein angemessenes Einkommen zu garantieren, das ausreicht, um in Würde gemäß dem Lebensstandard des jeweiligen Landes zu leben. Eine solche Richtlinie würde den Mitgliedsstaaten die Freiheit lassen, sie gemäß den nationalen Anforderungen umzusetzen; sie würde ihnen die Festlegung von gemeinsamen Verfahren und Standards ermöglichen, um so eine soziale Annäherung nach oben anzuregen. In Krisenzeiten würde das Mindesteinkommen sich wie ein automatischer Stabilisator auswirken und einen fairen Wettbewerb im europäischen Markt sicherstellen.

Ein europäisches Arbeitslosenversicherungssystem. – Der ehemalige EU-Kommissar für Beschäftigung, Soziales und Integration László Andor schlägt ein System zur teilweisen (40 % des letzten Gehalts) und zeitlich begrenzten (6 Monate lang) Unterstützung der Arbeitslosenhilfe in der Eurozone vor. Die Beiträge der Mitgliedstaaten sollten ein Budget von rund 1 % des europäischen BIP erreichen und die Steuertransfers würden in Krisenzeiten wie effiziente antizyklische Stabilisatoren wirken, die die Abwärtsspirale aus Rezession, Sparmaßnahmen und Unbeliebtheit der Union bremsen.

Eine Eurodividende. – Die Professoren Philippe Van Parijs und Yannick Vanderborght schlagen vor, an alle rechtmäßigen Einwohner der Europäischen Union ein bedingungsloses und universelles Grundeinkommen in Höhe von 200 €, finanziert durch die Mehrwertsteuer, auszuzahlen. Dieser Sockelbetrag zur wirtschaftlichen Sicherung ist zwar bescheiden, würde aber die Verschiedenheit unterschiedlicher sozialer Sicherungssysteme erhalten und verstärken. Diese könnten ihre Ausgaben um diesen Betrag kürzen und gleichzeitig ein hohes Maß an Umverteilung beibehalten.

Die länderübergreifenden Transfers würden ebenfalls als automatische Stabilisatoren bei asymmetrischen Schocks wirken. Noch ehrgeiziger ist der Vorschlag der Finanzierung durch eine auf europäischer Ebene harmonisierte Unternehmenssteuer, der einen zusätzlichen Nutzen hätte: In dem die Unternehmen verpflichtet würden, eine konsolidierte Steuererklärung für die gesamte Unternehmensgruppe und ihre Tochtergesellschaften einzureichen, würden Steueroptimierung und Steuerdumping ausgemerzt.

Gerechtigkeit wählen und Hoffnung geben

Sehr geehrter Herr Präsident, werden Sie zulassen, dass unsere Jugend zur berüchtigten „verlorenen Generation“ wird? Werden Sie zulassen, dass dieses schleichende Prekariat unsere Achtung der Menschenwürde, der Freiheit, Demokratie und Gleichheit verdirbt? Gerechte, mutige und schlüssige Vorschläge sind dringend erforderlich, denn:

  1. Nationale und gesamteuropäische Solidarität sind untrennbar miteinander verbunden und verstärken sich gegenseitig.
  2. Die europäische Union kann auf die solide und energische Unterstützung der Bevölkerung nicht verzichten; diese hängt von einer Sozialpolitik ab, die alle einschließt und gleich behandelt.
  3. Eine Übertragung finanzpolitischer Souveränität erfordert ein soziales, steuergerechtes und demokratisches Europa.
    Angesichts der erschöpften politischen Software, die wir von einer Krise zur nächsten beobachten: seien Sie der Anführer eines Europas mit menschlichem Gesicht. „Viele Dinge scheinen so unmöglich, so lange man sie noch nicht getan hat“ (André Gide).

Also, Herr Juncker: Wann kommt das soziale „Triple A“-Rating?

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