Nachrichten Zwei Städte in Europa

Valka-Valga, Leben in zwei Zeitaltern

Wer die Grenze zwischen Valka in Lettland und Valga in Estland überschreitet, der begibt sich nicht nur in ein anderes Land, sondern unternimmt auch so etwas wie eine Zeitreise. – Geschichte eines Streits zwischen Alten und Jungen am anderen Ende Europas.

Veröffentlicht am 16 Februar 2011 um 14:35

„In Estland ist immer alles besser“, sagt die Chefredakteurin der Valkaer Zeitung, Ingūna Johansone, zu ihren Gästen. Ihren Mund verzieht sie dabei zu einem leichten Lächeln. Sie zeigt, wie ironisch sie das meint. „Das sagen die Letten gewöhnlich. Ich glaube aber nicht, dass die Unterschiede so groß sind.“ Sobald man in der Redaktion der Ziemeļlatvija von Valga und Valka spricht, gibt es immer einen, der sich an einen ehemaligen Kollegen erinnert, der nun in Estland arbeitet. „Mein Sohn arbeitet auch in Estland“, sagt ein anderer. „Ein Freund sucht dort Arbeit…“ oder „Ein Verwandter arbeitet schon da…“. Niemand weiß genau, wie viele Letten in Valga arbeiten. Ungefähr 200 sollen es sein. Für eine kleine Stadt ist das nicht schlecht.

Die Letten haben jetzt auch die estnischen Geschäfte entdeckt. Und selbst wenn sie sicher sind, dass die Preise in Estland seit der Euro-Einführung gestiegen sind, gehen sie dennoch zu Hunderten jedes Wochenende zum Einkaufen „rüber“. „In Valga wird jede fünfte Wohnung an einen Letten verkauft“, erzählt der Immobilienmakler Hans Heinjärv. „Allerdings fällt mit kein Este ein, der eine Eigentumswohnung erworben hätte.“ Und schließlich gingen die Letten auch noch ins Krankenhaus von Valga. 300 im vergangenen Jahr. Und 82 sind dort geboren. (Im Vorjahr lagen diese Zahlen bei jeweils 50 und 17.)

Wenn der Schnee schmilzt, werden die Unterschiede sichtbar

Bisher fand die Entwicklung schleichend statt, unorganisiert. Im November ging der junge Bürgermeister von Valga, Ivar Unt, aber zum Angriff über. In einer Kampagne rief er die Letten dazu auf, sich bei seinen Behörden als Bewohner Valgas zu melden. Sogar ein Gutschein von 319 Euro wurde unter den Teilnehmern verlost. „Das ist ein Skandal!“, wetterte der Bürgermeister von Valka, Kārlis Albergs. Auch die lettischen Journalisten gossen Öl ins Feuer: Fernseh-, Radio- und Zeitungsleute reisten aus Riga an und zeigten Bilder eines florierenden Valga und eines stagnierenden Valka.

In Wirklichkeit ist Valga keine reiche Ecke Estlands. Nur im Kreis Ida-Viru [der russischsprechenden Region im Nordosten Estlands] gibt es mehr Arbeitslose. Und die Statistiken zeigen, dass die Gehälter hier die niedrigsten im ganzen Land sind. Natürlich ist Valga kein Ghetto mit einem Obdachlosen an jeder Straßenecke. Die Armut hier ist relativ. Es liegen ein paar mehr Häuser in Ruinen als in anderen Städten Estlands. Genau genommen ist es der Gesamteindruck der Stadt, der ermüdend ist. Die Sowjetunion hat ihre Spuren hinterlassen: Damals zog man in der Grenz- und Eisenbahnstadt Industriegebäude hoch, die heute niemand mehr braucht.

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Trotz allem geht es Valga heute besser als dem lettischen Valka. In erster Linie weil Valga größer und wohlhabender ist. Die Gehälter und Sozialleistungen sind hier höher. Und die Stadt ist dank ihrer neuen Gebäude, Einkaufszentren, einiger Kleinunternehmen, einer wunderschönen Schule und einem großen Krankenhaus besser entwickelt. Wenn Schnee liegt, dann sind die Unterschiede zwischen beiden Städten unsichtbar. Wer aber im Sommer vom estnischen in den lettischen Teil geht, der fühlt, als würde er in der Zeit reisen.

Das zählt, wo man noch Arbeit findet

Dabei liegt der wahre Unterschied für die Menschen woanders: „In Valga kann man noch Arbeit finden“, sagt die Lettin Marite Runka, die in einer Textilfabrik arbeitet. Anu Eesmaa, Produktionsleiterin der Fabrik, erzählt lachend, dass Marite Runka die Chefin der „lettischen Zunft“ sei, weil sie ein Team aus mehreren Letten leitet. Zwanzig von ihnen arbeiten in der Fabrik.

Niemand fordert sie an. Sie kommen von ganz allein. Ein Bekannter habe das empfohlen, ein Freund dazu ermutigt… Die estnischen Unternehmer versichern, dass sie nicht gezielt versuchen, Letten einzustellen. Das passiert einfach so. Das ist Zufall. Der junge Bürgermeister von Valga – Ivar Unt – setzt sich an seinen kleinen Schreibtisch mit dem offiziellen Porträt des estnischen Präsidenten Toomas Hendrik Ilves. Er bietet seinen Gästen Tee und Gebäck an und spricht über die Stadt, die sich in zwei verschiedenen Staaten befindet. Die einfachen Letten mögen den estnischen Bürgermeister. Für sie ist er innovativ, mutig und unternehmerisch. Der Bürgermeister Valkas, Kārlis Albergs, ist ein Mann der „alten Schule“, im Rentenalter, und sein ganzes Gegenteil.

Die Kampagne, in der die Letten dazu aufgefordert wurden, sich in Estland zu melden, hat letztendlich keine großen Auswirkungen gehabt: Nur zehn Einwohner haben sich umgemeldet. Es war schwierig die zuständige Stelle zu finden. Hat die Nachricht aber erstmal die Runde gemacht, und ist die Ummeldung erleichtert, dann könnte die Zahl der Anmeldungen in Valga in die Höhe schießen. Ivar Unt glaubt, dass das erst er Anfang ist. Die lettischen Politiker sollten sich warm anziehen. (jh)

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