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Quechua Zelte im früheren Flüchtlingslager in Idomeni, in der Nähe der mazedonischen Grenze.

Welche Zukunft haben “Quechua Babys”?

“Quechua Babys” – so nennen Ärzte Neugeborene, deren Mutter es nicht mehr in ein Krankenhaus geschafft hat und die daher in einem Zelt geboren wurden. Für Kinder, die in Flüchtlingsheimen zur Welt kommen, ist die richtige Registrierung der Schlüssel, um ihre Staatsangehörigkeit festzustellen.

Veröffentlicht am 11 August 2016 um 13:31
Phil Le Gal/The New Continent  | Quechua Zelte im früheren Flüchtlingslager in Idomeni, in der Nähe der mazedonischen Grenze.

Eng in ein Kundakah gewickelt schläft Noura ruhig. Ehe sie Syrien verließen und sich auf den langen Weg nach Europa machten, packten ihre jungen Eltern sorgfältig mehrere dieser traditionellen Baumwolltücher ein, in die Babys während der ersten zwei Lebensmonate eingewickelt werden. Nouras Vater Mohammed erinnert sich, wie er die Aussteuer seiner Tochter den ganzen Weg von Syrien in seinem Rucksack trug und wie er sich selbst dann weigerte, sie aufzugeben, als sie sich vor dem Einsteigen in das kleine Boot, das sie über die Ägäis bringen sollte, von fast allen Besitztümern trennen mussten.

Noura ist eines der vielen hundert Babys, die in Griechenland geboren wurden, weil ihre Eltern aus ihrem Land flohen um in Europa Asyl zu beantragen. Statistiken zu bekommen ist schwierig. Selbst das UNHCR hat keine genauen Zahlen.

Fotini Kesedopoulou, UNHCR-Schutzexpertin im inzwischen nicht mehr existierenden Lager in Idomeni, nahe der mazedonischen Grenze (EJRM) sagt, dass unter den Lagerbewohnern – in Spitzenzeiten über 12.000 Menschen – eine zu große Fluktuation geherrscht habe, um die Neugeborenen zu zählen. Aber: die unabhängige griechischen Nichtregierungsorganisation Praksis verteilte kurz vor der Evakuierung des Lagers Ende Mai Windeln für Kinder unter drei Monate an 125 Familien und Milchpulver an 12 Mütter, die ihre Babys nicht stillen konnten. Dies gibt eine Vorstellung von der Anzahl der Neugeborenen in einem einzigen Lager.

Heven, Nouras 19-jährige Mutter, verbrachte die letzten drei Monate ihrer Schwangerschaft im Lager Idomeni und hatte gehofft, von dort mit dem Rest der Familie über die Grenze nach EJRM und dann bis nach Deutschland zu gelangen, wo einige Familienmitglieder sich bereits niedergelassen haben. Sie hatte sicherlich nicht erwartet, dass ihre Tochter die ersten Wochen ihres Lebens in einem Zelt verbringen würde.

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Die meisten Flüchtlingsbabys kommen in Krankenhäusern vor Ort zur Welt, aber einige, vom medizinischen Personal liebevoll „Quechua-Babys“ genannt (nach der am weitesten verbreiteten Zelt-Marke) schaffen es nicht ins Krankenhaus und werden unter behelfsmäßigen Umständen geboren. „Es kann sehr schwierig sein“, erinnert sich Isabelle, eine medizinische Fachkraft bei Médecins du Monde, die schon geholfen hat, Babys unter solchen Bedingungen zur Welt zu bringen.

Sicher ist, dass alle diese Neugeborenen in den ersten Wochen ihres Lebens unter den extremsten Bedingungen campen. Was ihnen bevorsteht, könnte allerdings noch schwieriger werden. Wie bei vielen Vertriebenen weltweit könnte es schwierig werden, ihre Staatsbürgerschaft nachzuweisen. Ironischerweise kommt das französische Wort für staatenlos, „apatride“ vom griechischen Wort „patris“ und bedeutet „ohne Land der Vorfahren“. Griechenland könnte unbeabsichtigt weitere künftige staatenlose Personen schaffen.

Wenn man Nouras Eltern nach ihrer Staatsangehörigkeit fragt, antworten sie, dass ihre Tochter auf jeden Fall Syrerin sei. Aber andere Eltern von Neugeborenen sagten, sie hofften, dass die Familie einen europäischen Pass bekommen könne, weil ihr Kind in Griechenland geboren wurde. Die meisten von ihnen hatten keine Ahnung.

Selbst Frau Kesedopoulou vom UNHCR antwortete, sie müsse erst in der UNHCR-Zentrale nachfragen, bevor sie diese Frage beantworten könne. Am darauffolgenden Tag räumte sie ein, dass Kinder, deren Registrierung nicht ordnungsgemäß durchgeführt wird, in großer Gefahr schweben, staatenlos zu sein. „Da es keine Möglichkeit gibt, die Geburt des Kindes in der Botschaft ihres jeweiligen Landes anzumelden, ist es wichtig, dass Eltern das griechische Anmeldungsverfahren gründlich durchführen, um sicherzustellen, dass ihr Kind nicht staatenlos wird", erklärte sie.

Das Anmeldeverfahren erfordert mehrere Schritte, die nicht alle Eltern kennen, insbesondere da alle Dokumente, die an sie ausgegeben werden, in griechischer Sprache geschrieben sind. Üblicherweise erhält das Kind eine vorübergehende Geburtsurkunde vom Krankenhaus. Mit diesem Dokument müssen die Eltern zur örtlichen Polizeidienststelle gehen, um den Namen des Kindes zu bestätigen und eine gemeinsame Erklärung abzugeben. Dass beide Eltern gemeinsam das Kind anmelden, ist wichtig. In einigen Fällen können nach syrischem Recht nur Männer die Staatsbürgerschaft an ihre Kinder weitergeben.

„Das syrische Recht schreibt vor, dass die Bürger das Personenstandsrecht des Landes einhalten müssen, in dem sie sich befinden. Was das Verhindern der Staatenlosigkeit angeht – wenn eine rechtmäßige griechische Geburtsurkunde den Namen des syrischen Mannes als Vater ausweist, ist das Kind syrisch“, erklärt Zahra Albarazi vom Institut für Staatenlosigkeit und Inklusion, einer Organisation mit Sitz in den Niederlanden.

In Nouras Fall und im Fall der meisten Babys in den Lagern, die beide Elternteile haben, kann die Staatsangehörigkeit leicht festgestellt werden, wenn eine ordnungsgemäße Anmeldung durchgeführt wurde. Für syrische Babys mit alleinstehenden Müttern ist es derzeit jedoch fast unmöglich, die Staatsangehörigkeit festzulegen.

„Eine Änderung des syrischen Staatsangehörigkeitsrechts – die syrischen Frauen gestattet, ihre Staatsangehörigkeit ebenso wie Männer weiterzugeben, würde das Problem lösen“, meint Albarazi.

Sie ist Mitautorin eines Berichts für den norwegischen Flüchtlingsrat (NRC), der die Wechselwirkung zwischen Staatenlosigkeit und Vertreibung untersucht, und der vor allem betont, dass Staatenlosigkeit eine Folge der Vertreibung ist. Da fast 9 Millionen Syrer entweder im Inland vertrieben wurden oder Flüchtlinge sind und die Zahlen stetig steigen, ist die Gefahr der Staatenlosigkeit unter der vertriebenen syrischen Bevölkerung und vor allem unter den Neugeborenen offensichtlich.

„Besonders wichtig ist, dass wir das Bewusstsein für die Bedeutung der Dokumentation unter den Flüchtlingen stärken – denn obwohl es nicht bedeutet, dass sie staatenlos sind, bringt sie das Fehlen von Dokumenten doch in verschiedener Hinsicht in Gefahr“, fügte Albarazi hinzu.

„Eine offizielle Geburtsurkunde ist für einen Asylantrag von entscheidender Bedeutung“, versicherte Kesedopoulou. Das UNHCR und die griechischen Behörden ermutigten mit diesem Argument Flüchtlinge, offene Lager zu verlassen und in offizielle Lager zu gehen, wo nach deren Aussage Babys systematisch angemeldet werden und Asylanträge schneller bearbeitet werden.

Dies ist ein wichtiger Anreiz, den viele Familien berücksichtigt haben, als sie in von der Regierung betriebene Lager umgezogen sind, und der ihr Leben unter schwierigen Bedingungen erträglicher macht. Wollen wir hoffen, dass das griechische Migrationsamt sein Wort sowie das Versprechen hält, Babys zu registrieren, die auf seinem Territorium geboren sind, und auch die Zusage, Asylanträge für alle Flüchtlinge zu beschleunigen.

Der falsche Umgang mit dieser Situation wird zu noch mehr Frustration bei den Flüchtlingen führen und die Zahl der laut UNHCR über 10 Millionen staatenlosen Personen weltweit steigern.

Update

Ein neues Leben in Deutschland

Während dieser Artikel geschrieben wird, sind Noura und ihre Eltern in Deutschland und wieder mit den Mitgliedern der Familie vereint, die bereits dort leben. Im Alter von nur wenigen Wochen wurde Noura von Griechenland nach Serbien geschmuggelt, von ihrer Mutter über die Hügel von Mazedonien getragen und dann von einem Lager zum nächsten von Serbien über Ungarn nach Deutschland gefahren.

Die Chancen stehen gut, dass ihr Status geordnet wird, und mit der Unterstützung durch den starken Willen und die Widerstandsfähigkeit ihrer Eltern wartet eine glänzende Zukunft auf sie.

Währenddessen wartet im provisorischen Lager Kelibija an der Grenze zwischen Serbien und Ungarn ein echtes „Quechua-Baby“ auch auf eine bessere Zukunft. Die vier Monate alte Rodin („Sonnenaufgang“ auf Kurdisch) wurde am 26. März 2016 im Lager Idomeni geboren, nur ein paar Tage nach der schicksalhaften Schließung der Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien.

Nachdem sie vom medizinischen Personal des Krankenhauses Kilkis wieder ins Lager zurückgeschickt worden war, weil man der Meinung war, es sei noch zu früh für die Entbindung, brachte Rodins 24 Jahre alte Mutter Amina (foto) sie in dem Zelt zur Welt, das sie mit ihrem Mann und ihren zwei anderen Töchtern bewohnte.

Rodin war noch keine drei Monate alt, als ihre Familie sich auf den langen, tückischen Weg durch Mazedonien machte.

„Ich war krank, und als ich zusammenbrach und nicht mehr gehen konnte, ließen die Schmuggler mich und meine Familie zurück“, erinnert sich Amina. Sie fanden den Weg zur serbischen Grenze nach einer zehntägigen Wanderung selbst. Die ganze Familie campiert jetzt neben dem Stacheldraht, der Serbien und Ungarn trennt, direkt neben dem besonderen Tor, durch das jeden Tag 15 Flüchtlinge über die Grenze gelassen werden, bevor sie mit dem Bus zu einem weiteren Lager in Ungarn gebracht werden. In ihrer Eile, ihre Heimatstadt Khobany in Syrien zu verlassen, hat die Familie ihre Personaldokumente nicht mitgenommen, was ihre potenzielle Umsiedlung noch schwieriger macht.

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