Abfall an einem englischen Strand. Bild: Chez Worldwide

Arme kranke Nordsee

Plastik, chemische Produkte, giftige Bomben: vor der belgischen Küste sind die Gewässer immer dreckiger. Forscher sorgen sich um das Überleben von Meeresflora und -fauna.

Veröffentlicht am 9 Juli 2009 um 15:16
Abfall an einem englischen Strand. Bild: Chez Worldwide

Wenn Tausende von Touristen am Ende eines schönen Sommertages dem Strand von Ostende den Rücken kehren, so lassen sie jede Menge Abfall zurück. Plastiktüten, Zigarettenstummel, Windeln und eine Vielzahl von Dosen und Flaschen. Am Ende eines belebten Wochenendes sammelt die städtische Müllabfuhr von Ostende schon mal bis zu zehn Tonnen Abfall ein. Für Flora und Faune ist das eine Katastrophe. Der große Strandreiniger, der die Flutlinie kehrt, gräbt den Boden bis zu zehn Zentimeter tief um und bringt dabei haufenweise biologisches Material an die Oberfläche. Doch dadurch zieht er auch das mikrobiotische Leben des Sandes in Mitleidenschaft. Zusätzlich verschwindet auf diese Art und Weise sehr viel Plastik unter dem Sand. "Mit dem bloßen Auge ist das natürlich nicht sichtbar, aber unser Strand besteht gegenwärtig zu einem großen Teil aus Plastik", erklärt Pavel Klinckhamers von Greenpeace Niederlande.

Doch zu glauben, dass all dieses Plastik nur von den Touristen stammt, wäre weit gefehlt. Viel zahlreicher sind die Abfälle, die Schiffe absichtlich oder aus Versehen ins Meer werfen. Man schätzt, dass jährlich zwischen 2.000 und 10.000 Container über Bord gehen. Meeresvögel halten Teile dieser Abfälle oft für Nahrung und fressen diese. Eine 2003 durchgeführte niederländische Studie hat gezeigt, dass 95 Prozent der am Ufer gefundenen Sturmvögel Plastik in ihren Mägen hatten. Ebenso findet man Plastik in den Mägen zahlreicher Robben, die am Ufer landen.

Im Gegensatz dazu sinkt die Zahl der ans Ufer treibenden mit Öl verseuchten Meeresvögel, was beweist, dass der international geführte Kampf gegen die illegalen Öleinleitungen in die Nordsee nicht umsonst ist. In den 1980er Jahren waren alle am Ufer landenden Vögel ölverseucht. Heutzutage trifft das nur noch für ein Viertel von ihnen zu. Doch ist das noch immer ein Viertel zu viel. Die Seefahrer sind dickköpfig.

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Nur wenige Menschen wissen, dass der Meeresboden vor der Heister Küste eigentlich eine riesige, vielfältige Munitionen der beiden Weltkriege beherbergende Müllhalde ist. Die geschätzte Menge beträgt zwischen 35 und 200 000 Tonnen, wovon ein Drittel sogar Giftgas enthält. Ein Eingriff könnte eine Umweltkatastrophe zur Folge haben. Aber die Bomben dort zu lassen, wo sie sind, ist ebenfalls gefährlich, da sie früher oder später derart vom Rost zerfressen sein werden, dass ihre giftigen Ladungen freigesetzt werden. Die MUMM (Management Unit of the North Sea Mathematical Models and the Scheldt estuary, zu deutsch etwa "Verwaltungseinheit des mathematischen Modells der Nordsee und der Meeresmündung der Schelde") überwacht den Zustand dieser Müllhalde aus der Nähe.

Chemikalien und hormonelle Störungen

Jugendliche, die in der Nordsee baden gehen, brauchen sich auf alle Fälle nicht davor zu fürchten, dass ihnen ein Bart wächst, da die Dosis an schädlichen chemischen Substanzen viel zu niedrig ist. Das Leben im Meer wird durch diese Chemikalien allerdings sehr wohl hormonell gestört. In einem Zeitraum von nur zwei Jahren hat der Biologe der MUMM, Francis Kerckhof, das völlige Aussterben der Stachelschneckenpopulation in der Nordsee beobachtet. Unter dem Einfluss der Chemikalien haben die Weibchen Penes entwickelt und waren dadurch nicht mehr fähig, sich fortzupflanzen, was das völlige Aussterben dieser Tierart zur Folge hatte. "Bei den Austern, den Herzmuscheln und Fischen haben wie jüngst auch Missbildungen und einen Rückgang ihrer Fruchtbarkeit festgestellt", erklärt Kerckhof.

Vor allem drei Typen von Chemikalien bereiten den Forschern Sorgen: Die Polychlorierten Biphenyle (PCB) sind hochgradig giftig (man erinnere sich nur an die Dioxin-Krise) und auch wenn sie gewiss seit langer Zeit verboten sind, so verbleiben sie doch noch etwa Tausend Jahre in den Meeresgewässern. Die Polycyclischen aromatischen Kohlenwasserstoffe (PAK) sind teerhaltige Substanzen, welche die Schornsteine der Schiffe freisetzen, die sehr schweres und umweltschädliches Heizöl verbrauchen. Die Tributylzinnhydride (TBT) sind zinnhaltige Stoffe, welche in den sich auf den Schiffskörpern befindlichen Farben und Lacken enthalten sind.

Überfischung

Die genauen Auswirkungen der Verschmutzung auf die Fischbestände ist sehr schwer messbar, weil die Fische der Nordsee schon stark durch den Fischfang dezimiert wurden. Francis Kerckhof macht darauf aufmerksam, dass "Thunfische, Kabeljaus, die größer als ein Meter sind, Drachenfische, Haifische, lebendgebärende Austern und große Wellhornschnecken alle aus unseren Gewässern verschwunden sind". Und auch wenn ein Fischfangverbot verhängt wird, so braucht es doch sehr viel Zeit, bis sich die vom Aussterben bedrohten Arten wieder erholen. "Wahrscheinlich liegt es daran, dass die Verschmutzung ihnen sämtliche Kräfte geraubt hat, die es ihnen erlauben würde, sich wieder zu erholen. Zudem hat ihre Fruchtbarkeit zu sehr abgenommen", erklärt Ann-Katrien Lescrauwaet vom Flämischen Institut für das Meer (VLIZ).

Zu Beginn eines jeden Tages wird der Strand gründlich gereinigt. Die küstennahen Gewässer scheinen sauber zu sein und der Fischmarkt bietet frisch gefangene Seezunge in Hülle und Fülle an. Der Meinung von Patrick Roose und Kerckhof nach ist die Nordsee aber ziemlich angeschlagen. Momentan lassen sich die dramatischen Folgen noch nicht wirklich erkennen, weil die Nordsee von einer starken Strömung profitiert, die ihre Gewässer alle zwei Jahre vollständig erneuert. "Das Leben im Meer nähert sich jedoch einem Punkt, an dem es kein Zurück mehr geben wird", warnt Kerckhof.

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