Ideen José Manuel Barroso und Neelie Kroes
José Manuel Barroso und Neelie Kroes in 2007.

Wenn ehemalige Mitglieder der EU-Kommission in die neoliberale Wirtschaft wechseln

Die jüngst bekannt gewordenen neuen Arbeitsplätze des ehemaligen EU-Kommissionpräsidenten José Manuel Barroso und der ehemaligen Wettbewerbskommissarin Neelie Kroes kommen nicht überraschend. Der Vorgang erinnert vielmehr daran, dass Europa der Entwicklungsraum für eine neue Art von Staat ist, in dem die Grenzen zwischen öffentlichen Ämtern und der Privatwirtschaft strukturell durchlässig sind.

Veröffentlicht am 23 November 2016 um 09:46
José Manuel Barroso und Neelie Kroes in 2007.

José Manuel Barroso geht zu Goldman SachsGoldman Sachs, Neelie Kroes zum „Beratungsausschuss für politische Fragen“ (sic) von Uber ... diese beiden Personalwechsel an der Spitze der Europäischen Union sind auf jeden Fall spektakulär. Aber es wäre falsch, darin nur individuelle Abweichungen von der Norm zu sehen, mit einer Verbindung zum (neokonservativen) Profil des einen oder dem beruflichen Werdegang der anderen (die ständig zwischen den Aufsichtsräten großer privater Konzerne und politischen Funktionen gewechselt hat). Es handelt sich in der Tat weniger um krankhafte Auswüchse sondern eher um das normale Vorgehen einer europäischen Politik, in der seit mehr als zwei Jahrzehnten etwas an Bedeutung gewinnt, was man als „neoliberale“ Personal-Rochaden zwischen Politik und Wirtschaft bezeichnen könnte.
Für die beiden „Abtrünnigen“ geht es darum, in der Wirtschaft exakt das Gegenteil von dem zu tun, wozu sie in ihrer öffentlichen Position gezwungen waren: nämlich mithilfe von „Interpretationen“, „Ausnahmen“ und „Abweichungen“ das zu vereiteln, für dessen Einführung sie sich zuvor stark gemacht hatten: wirksame europäische Regeln für den Binnenmarkt, für den Wettbewerb und die Kontrolle der Haushaltsdefizite. Dies geht weit über einen Wechsel zwischen Staat und Privatwirtschaft im klassischen Sinne hinaus, wie er in Frankreich schon in den 1970er Jahren gang und gäbe war und der enge Verbindungen zwischen der Staatsführung und großen Industrie- und Bankenkonzernen sowie zwischen strategischen bzw. der öffentlichen Hand eng verbundenen Branchen schuf. Dieses mächtige Klüngel-Netzwerk wirkte tatsächlich wie eine Art längerer Arm des Staates und seiner großen Körperschaften, die zu „Chef-Koordinatoren“ in der gemischten Wirtschaft „à la française“ erhoben wurden.
So etwas gibt es in der Europäischen Union nicht, die niemals ein „produktiver Staat“ und auch kein wirtschaftlicher Akteur war (der EU-Haushalt macht kaum 1 % des europäischen BIP aus). Die EU hat ihre spezifische Form als staatliches Gebilde und als Behörde vor allem durch die Entwicklung eines „liberalen Interventionismus“ zugunsten der wirtschaftlichen Freiheiten und des „unverfälschten“ Wettbewerbs definiert und sich – von der Generaldirektion Wettbewerb am Europäischen Gerichtshof über die Regulierungsagenturen – als die große Kraft positioniert, die gegenüber den privaten Märkten weisungsbefugt ist.
Dieser Market-Making-State, der im Labor Europa geschmiedet wurde, beeinflusste umgehend die europäischen Staaten, die ihren eigenen Verwaltungsapparat tiefgreifend umgestalteten. Von der Wettbewerbsbehörde bis zur Finanzmarktbehörde sind sie zu „regulierenden“ Staaten geworden, die den Auftrag haben, nicht mehr einen alternativen Wirtschaftsraum zu gestalten sondern nun das „freie“ Funktionieren der privaten Märkte mittels „Genehmigungen“ (für das Inverkehrbringen), „Sanktionen“ (gegen Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung) , „Aufsichtsvorschriften“ (zur Vermeidung von „Marktversagen“) usw. zu verankern.
Dieser neoliberale Umbaudes Staats findet seine Entsprechung auf der Seite des Marktes. Die großen Unternehmen haben sehr schnell erkannt, dass ihre Marktmacht nicht nur in ihrer Innovationskraft und ihrem kommerziellen Einfluss besteht, sondern in ihrer Fähigkeit, diese öffentliche Hand, die die privaten Märkte „macht“, zu beeinflussen. Der Zugang zur wie auch immer gearteten Aufsicht (Parlament, hohe Beamte, Kommissare, Richter usw.) ist zum zentralen Schwerpunkt ihrer Geschäftsstrategien geworden. Mit anderen Worten: in dem Maße, wie die Staaten und die EU in den Markt eintauchten und diese neoliberale Wandlung vollzogen, bauten die privaten Akteure eine gleichgerichtete Bewegung auf, indem sie mit allen Mitteln Fachwissen und praktische Kenntnisse über die öffentliche Hand ansammelten (Schaffung leistungsfähiger Abteilungen für politische Fragen, Einsatz von Lobbyfirmen, Anstellung ehemaliger „Regulierer“ usw.).
Dieses Thema ist ein essenzielles Paradoxon des neoliberalen Staates. Die Entstehung dieses neoliberalen Staates wird durch die Notwendigkeit gerechtfertigt, der staatlichen Blindheit ein Ende zu machen und die Einflussbereiche des Staates und des Marktes klar zu trennen. Tatsächlich hat sie eine noch nie dagewesene Vermischung der beiden Sphären an der Schnittstellen zwischen Staat und Markt geschaffen und eine neue Form der „Versorgungsleistungen“ zugunsten professioneller Einflussgruppen geschaffen ([Lobbyisten, Wirtschaftsjuristen usw.] (https://www.timeshighereducation.com/books/the-strange-non-death-of-neoliberalism/417568.article)). Was die neoliberale Transformation der Staaten begünstigt ist also weniger ein Rückzug des Staates sondern vielmehr eine mächtige Bewegung, die die Grenzen genau dort verwischt, wo die (nationalen oder europäischen) Behörden auf den Markt treffen.
Für die Politik und die Demokratie steht offensichtlich viel auf dem Spiel. Zunächst und vor allem wird die Effizienz des öffentlichen Handels von denjenigen konterkariert, die wissen, wie man sie untergräbt und die damit einhergehenden Einschränkungen zum eigenen Nutzen zurechtbiegen. Allerdings geht es auch um das ureigene Funktionieren unserer Demokratien: Die Grenze zwischen Staat und Privatwirtschaft ist tatsächlich keine gewöhnliche Trennlinie: sie bestimmt aus Sicht der demokratischen Prinzipien auch genau „die Einflusssphäre des allgemeinen Willens selbst“ und legt dadurch eine Art des öffentlichen Diskurses und der Entscheidungsfindung fest, die sich diesseits und jenseits dieser Demarkationslinie grundlegend voneinander unterscheiden.
Hier – sozusagen am Rande der Demokratie – zeigt diese Verwischung der Grenzen zwischen dem Öffentlichen und Privaten, die dem neoliberalen Staat zu eigen ist, mehr als je die Räume auf, in denen sich das öffentliche Interesse im Vergleich zum ungleichen Spiel der Märkte definiert.
Reicht es, um dieses Risiko für die Demokratie zu vermeiden, also aus, wenn man von staatlicher Seite immer mehr Vorschriften für „Transparenz“ und „Verhinderung von Interessenkonflikten“ schafft, wie dies in Brüssel seit zehn Jahren geschieht? Das ist fraglich. Zunächst deshalb, weil Ethikkommissionen und Gremien zur Beurteilung standesgemäßen Verhaltens, die zur Bewertung der Angemessenheit der Wechsel von leitenden Beamten in die Wirtschaft geschaffen wurden, stets interne Instanzen der Verwaltung bleiben, weil ihre Einschätzungen geheim bleiben und weil sie rein beratende Funktion haben.
Aber vor allem: die Politik des Vermeidens von „Interessenkonflikten“, auf die diese Gremien zurückzuführen sind, erscheint angesichts des systemischen Charakters dieser Verstrickung des „Öffentlichen“ und des „Privaten“ äußerst unzureichend. Der Kampf gegen Interessenkonflikte ist von einer juristischen Sicht geprägt, die jeden Fall einzeln beurteilt – diese Sicht ermöglicht keinerlei Eindämmung dieser Bewegung, die den „öffentlich-privaten“ Einflussrahmen ständig erweitert und die mit jedem neuen nationalen oder europäischen Gesetz, welches die neoliberale Wandlung des Staates vollzogen hat, größer wurde. Wenn man diesen Prozess der „Korruption“ der staatliche Ethik tatsächlich beenden möchte, für die diese Wechsel zwischen Staat und Wirtschaft sicherlich ein Indiz darstellen, kommt man um eine weit umfangreichere politische Inventur der Auswirkungen und kumulativen Folgen dieser zwei Jahrzehnte neoliberaler Gesetzgebung nicht herum.

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