Nachrichten CETA-Verhandlungen

Mehr Demokratie in Europa und ein neuer Star für die Linke

Die Endphase der Diskussionen über das Freihandelsabkommen zwischen EU und Kanada und die von Wallonien aufgezwungenen Kompromisse im Vertragswerk werden wahrscheinlich langfristig die Art und Weise verändern, wie über Handelsabkommen verhandelt wird. Dabei spielen die Persönlichkeit und die Überzeugungen des Ministerpräsidenten der belgischen Region Wallonien, Paul Magnette, eine Schlüsselrolle.

Veröffentlicht am 6 Dezember 2016 um 22:39

Kanada und die europäische Gemeinschaft haben am 30. Oktober in Brüssel das „Comprehensive Economic and Trade Agreement“ (CETA) unterzeichnet, das zwischen den beiden eine Freihandelszone festlegt und damit den zweiwöchigen Wirbel beendet, der durch das Veto der belgischen Region Wallonien ausgelöst worden war; ein Veto, das die ursprünglich für den 27. Oktober geplante Unterzeichnung verzögert hat.

Als unerwartete Konsequenz der von den flämischen Nationalisten vorangetriebenen Föderalisierung Belgiens, die ihrerseits eine rasche Verabschiedung des CETA-Vertrags wünschen, ist das Veto das Ergebnis einer eingehenden Prüfung des Vertragswerks im Laufe des vergangenen Jahres durch die wallonischen Abgeordneten und Ihre Experten sowie durch die wallonische Zivilgesellschaft selbst. Das Ergebnis dieser Prüfung war, dass das Vertragswerk keine ausreichenden Garantien in Bezug auf Landwirtschaft, soziale Sicherheit, Umwelt- und Rechtsschutz bietet, denn es hätte den europäischen Unternehmen und Verbrauchern de facto die niedrigeren kanadischen Standards aufgezwungen.
Kritikpunkt war dabei besonders der Rückgriff auf private Schiedsgerichte,
(Investor-state dispute settlement, ISDS, sehr geläufig bei Handelsabkommen mit Schwellenländern mit einem unzuverlässigen Rechtssystem) die Entscheidungen fällen bei Klagen, die von multinationalen Firmen gegen Staaten eingereicht werden.
Das „Streitbeilegungsverfahren“ ISDS erlaubt multinationalen Konzernen, das Land in dem sie investiert haben vor einem privaten Richterkollegium (bestehend aus Experten, Juristen…) zu verklagen, wenn die politischen Entscheidungen des Landes die Interessen ihrer Firma beeinträchtigen.
Diese Einrichtung ist auch im umstrittenen Freihandelsabkommen mit den USA (TTIP) geplant und einer der wichtigsten Streitpunkte bei den Verhandlungen um dieses Abkommen.
ISDS käme bei 21 der 28 EU-Länder zur Anwendung – Länder, die keinen Schiedsgerichtsmechanismus mit Kanada haben, darunter Frankreich und Deutschland.
Nachdem europäische Staatschefs zehn Tage lang intensiv Druck auf Magnette ausgeübt hatten – allen voran ein anderer Sozialist, der französische Präsident François Hollande und verschiedene europäische Kommissare – lehnte die Wallonie das Abkommen ab. Sogar der in Europa sehr beliebte kanadische Premierminister Justin Trudeau griff zum Telefon um seinem belgischen Amtskollegen Charles Michel das Gefühl der Demütigung des kanadischen Volks zu übermitteln, als „Trojaner der USA“ bezeichnet zu werden. Der Liberale Trudeau hat, wie auch Charles Michel, mehrmals mit seinem Rückzug aus den Verhandlungen gedroht und einmal sogar seine Außenhandelsministerin Chrystia Freeland nach Naumur, dem Sitz der wallonischen Regierung geschickt. Sie kam nach ein paar Stunden mit leeren Händen zurück.
Trotz des Drucks und den Ultimaten der europäischen Kommission und dem Europarat hat Magnette, der in Anspielung auf die unbezwingbaren Gallier von Asterix „Wallonix“ genannt wird, Stand gehalten, insbesondere dank der Unterstützung durch den Führer der sozialistischen Partei, den früheren Premierminister Elio di Rupo und seine Koalitionskameraden aus der „Mehrheit der französischsprachigen Belgier“ und tausendfacher Unterstützung in den sozialen Netzwerken. Bis zum Nachmittag des 27. Oktober haben die Rechtsberater der wallonischen Regierung an den Texten des Abkommens gearbeitet, als dann die belgische Regierung die Einigung mit Wallonien ankündigte – allerdings zu spät für eine Anreise Trudeaus zur Unterzeichnung des Abkommens mit den 28 Staats-und Regierungschefs in Brüssel. Am nächsten Tag wurde es vom Bundesparlament angenommen und am Sonntag, den 30. Oktober von Trudeau und dem europäischen Ratspräsidenten Donald Tusk unterzeichnet. Der ursprüngliche CETA-Text bleibt zwar intakt, aber drei rechtlich bindende „Erklärungen zur Auslegung“ zum Rechtsschutz, den Agrarimporten und den Schiedsgerichten wurden hinzugefügt. Diese wurden durch ständige Gerichte mit dem Namen ICS (Investment Court System) ersetzt, die sich aus von den Staaten ernannten Richtern zusammensetzen, eine Berufungsgerichtsbarkeit wurde ihnen hinzugefügt.
Das CETA-Abkommen kann jetzt provisorisch zur Anwendung kommen, mit Ausnahme der ICS, denn die belgische Regierung hat sich verpflichtet, die Frage nach der Rechtslage für diese Gerichte an den europäischen Gerichtshof in Luxemburg heranzutragen und dessen Stellungnahme zu erwirken. Bevor das CETA-Abkommen formal in Kraft treten kann muss es noch vom europäischen Parlament (nicht vor Jahresende) und den nationalen und den zuständigen regionalen Parlamenten (ungefähr 40) ratifiziert werden. Dieser Prozess kann Jahre dauern und weitere Überraschungen bescheren, besonders in Deutschland, Luxemburg und Österreich, wo die Anti-CETA und TTIP-Bewegungen mindestens ebenso kämpferisch sind wie in Belgien und wo die Opposition auf regionaler Ebene sehr starken Einfluss hat.
Bei der ganzen Affäre haben die belgische Bundesregierung und die europäischen Instanzen eine gewisse Unbeholfenheit gezeigt und die Entschlossenheit und die Vorbereitung des wallonischen Ministerpräsidenten Paul Magnette und seiner Leute unterschätzt. Sie haben die Vorbehalte ignoriert, die der wallonische Ministerpräsident vor über einem Jahr gegenüber der EU-Außenkommissarin Cecilia Malmström und der belgischen Bundesregierung geäußert hat. Obwohl Informationen über die Situation zwischen Brüssel und Naumur flossen, wollten die Kommission und die Bundesregierung erst in letzter Minute mit Verhandlungen beginnen. Diese Taktik ist üblicherweise erfolgreich, denn sie lässt den moralischen Druck wirken, der durch den näher rückenden internationalen Termin und die Vermehrung der Ultimaten ausgeübt wird, aber in diesem belgischen Zusammenhang, wo Verhandlungskultur bis zum Ӓußersten zur Politik gehört und wo „alles verhandelbar ist, nur nicht die Verhandlung selbst“, nicht funktionier hat.
Bei dieser Machtprobe zwischen dem kleinen Wallonien mit seinen 3,6 Millionen Einwohnern und praktisch dem Rest der Welt ist der große Gewinner Paul Magnette. Der 46jährige wurde, insbesondere nach seiner inspirierenden Rede vor dem wallonischen Parlament in ein paar Tagen zur Ikone der Sozialdemokratie, des Widerstands gegen den triumphierenden Neoliberalismus und der Demokratie, gegen die Undurchsichtigkeit und die Arroganz der europäischen und internationalen Verhandlungsmechanismen.
Magnette, der erst spät in die Politik eingestiegen ist und heute als natürlicher Erbe des Premierministers Elio di Rupo an der Spitze der frankophonen belgischen Sozialisten betrachtet wird, ist ein untypischer Charakter auf der europäischen Politikbühne : als überzeugter Europäer - er ist Autor mehrerer Werke über die EU – unter anderem Contrôler l’Europe. Pouvoirs et responsabilité dans l’Union européenne [„Europa kontrollieren. Macht und Verantwortung in Europa“], oder Une Europe des élites ? Réflexions sur la fracture démocratique de l’Union européenne [„Ein Europa der Eliten ? Überlegungen zum demokratischen Riss in der Europäischen Gemeinschaft] – verbreitet er keine Slogans und will wirklich den Riss zwischen Bürgern und den europäischen Institutionen reparieren, einer der Gründe für die aktuelle Blockade der EU. Seine Vision von Öffnung und Transparenz in der europäischen öffentlichen Debatte ist von Kant und dem deutschen politischen Philosophen Jürgen Habermas inspiriert, mit welchem er das Bewusstsein über die Notwendigkeit teilt, mit pädagogischen Maßnahmen die politische Seite der EU stärker zu fördern und die europäischen Institutionen und Bürger mehr an der europäischen Politik zu beteiligen.

Durch diese intellektuelle Festigkeit konnte Magnette einerseits dem wochenlangen enormen Druck während den Verhandlungen über CETA standhalten, und gleichzeitig konkret an CETA seine Theorien über die Funktionsweise der europäischen Demokratie testen. In Charleroi, der Arbeiterstadt, die heute als Symbol für den postindustriellen Zerfall Walloniens und die Korruption der Sozialistischen Partei auf lokalem Niveau steht, hat er als Bürgermeister seit 2012 teilweise versucht, diese Theorien umzusetzen, auch als Bundesminister für Energie und Klima, und seit 2014 als Präsident von Wallonien, als sein persönliches Labor.
Die CETA-Affäre erinnert auch daran, dass nationale Parlamente immer noch eine zentrale Rolle in westlichen Demokratien spielen können und sollen: sie garantieren, dass Gesetze wirklich dem allgemeinen Interesse entsprechen und vermitteln zwischen Bürgern und internationalen Institutionen, im beiderseitigen Interesse. Diese Affäre hat sehr wahrscheinlich auch die Art und Weise, wie über Handelsabkommen verhandelt wird, verändert: die europäische Kommission wird, selbst wenn dies ihrem Auftrag entspricht, nicht mehr allein hinter verschlossener Tür und ohne öffentliche Berichterstattung über den Diskussionsstand an die Parlamente der Mitgliedstaaten und die Öffentlichkeit im Allgemeinen über europäischen Verträge verhandeln können,. Und das ist schon ein Schritt vorwärts in Richtung eines transparenteren und demokratischeren Europa.

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