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Bald ein EU-Bürger? Ein Tunesier flieht aus Libyen in sein Heimatland, am Grenzübergang Ras Jdir, 23. Februar.

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Vor 30 Jahren hätte niemand vorhergesehen, dass Länder des Warschauer Pakts schon bald der Europäischen Union beitreten würden. Jetzt, da die arabischen Staaten ihre Revolutionen erleben, muss die EU ihnen dieselbe Möglichkeit einräumen, um die Demokratie zu stärken, heißt: die Aussicht auf eine Mitgliedschaft.

Veröffentlicht am 1 März 2011 um 16:54
Bald ein EU-Bürger? Ein Tunesier flieht aus Libyen in sein Heimatland, am Grenzübergang Ras Jdir, 23. Februar.

Die Weigerung von Oberst Muammar al-Gaddafi, weder die moralische noch die praktische Logik seiner Situation zu akzeptieren – er hat sich in Tripolis verkrochen und über die Hälfte seines Landes (gemessen an der Bevölkerung) ist in Händen der Opposition – dürfte niemanden überraschen. In seinen mehr als 40 Jahren an der Spitze Libyens bewies er nie starken moralischen oder praktischen Instinkt, außer zur Erhaltung seiner eigenen Macht.

Dennoch [...] wird sich die Überraschung infolge der Ereignisse in Ägypten, Tunesien und jetzt Libyen langfristig gesehen weitläufig auf unsere Zukunft auswirken. Für die Europäische Union wird die nunmehr mögliche, ja sogar wahrscheinliche Ausbreitung einer demokratischen Revolution über breite Landstriche Nordafrikas und des Nahen Ostens durchaus Folgen haben. Wir sollten geduldig abwarten, wie wir das Ausmaß dieser Revolution beurteilen wollen, ganz wie wir es in den ersten Monaten nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 getan haben. Doch es wird sich heute wie damals auszahlen, vorauszuplanen und vorauszudenken.

Mit 1989 im Kopf vorausdenken

Die Entwicklung der EU bestand aus einer Reihe von Ideen, die zwar weit hergeholt schienen, als sie zum ersten Mal vorgebracht wurden, aber später unumgänglich erschienen. Die nächste dieser Ideen ist wahrscheinlich die Erweiterung der EU auf die Länder südlich des Mittelmeers. Niemand erwartet eine derartige Entwicklung, schon allein aufgrund der Tatsache, dass Frankreich, Deutschland und mehrere andere EU-Länder noch nicht einmal den Gedanken an eine Mitgliedschaft der Türkei akzeptieren können, die doch bereits eine Demokratie ist.

Doch denken wir an die frühen 1990er Jahre zurück: Es wurde schnell klar, dass es im größten Interesse Westeuropas lag, Stabilität, Freundschaftlichkeit und wirtschaftliche Entwicklung in den benachbarten ehemaligen sowjetischen Satellitenstaaten zu fördern. Dies geschah in einem langen, langsamen Verlauf, der ein gutes Jahrzehnt später in der EU-Vollmitgliedschaft für zehn von ihnen gipfelte. Nicht alle früheren Sowjetsatelliten wurden Demokratien, und nicht alle gehören heute zur EU. Das wird wahrscheinlich in Nordafrika und im Nahen Osten ebenso sein.

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Mitgliedschaft für nordafrikanische Länder

Man denke nur an die Parallelen zwischen dem Niedergang der Sowjetunion in den östlichen Grenzgebieten zur EU und dem Niedergang der arabischen Diktaturen südlich des Mittelmeers. Fakt ist, dass das heutige Erwachen der arabischen Länder ebenso wie die Zeit nach 1989 von enormem Interesse für Europa ist und eine in den kommenden Monaten und Jahren immer deutlicher werdende historische Gelegenheit bietet.

Amerika ist in dieser Region in heikle militärische Angelegenheiten verwickelt und wird voraussichtlich für das verantwortlich gemacht werden, was in Palästina passiert bzw. nicht passiert. Europa hat, wie schon nach 1989, hauptsächlich wirtschaftliche und kulturelle Beziehungen zu bieten, die grundsätzlich positiver sind. Die meisten nordafrikanischen Staaten arbeiten bereits mit europäischen Ländern als wichtigsten Handelspartnern zusammen: Italien beispielsweise ist führend im Erdöl- und Erdgashandel mit Libyen und Algerien. Die Logik dieser Beziehungen, nebst den Befürchtungen bezüglich Instabilität und Massenmigration, kann langfristig nur in eine Richtung weisen: irgendeine Art von EU-Mitgliedschaft für manche nordafrikanischen Länder.

Das einzig wertvolle, was wir ihnen bieten können

Wahrscheinlicher als eine Vollmitgliedschaft, so wie wir sie heute verstehen, ist eine neue Art von Union mit verschiedenen Mitgliedschaftsformen. Das ist auch heute schon der Fall, denn nur manche der 27 EU-Mitgliedsstaaten gehören auch zur Eurozone oder zum reisepassfreien Schengenraum. Man wird also eine neue Formel finden müssen, um die demokratischen Länder Nordafrikas wirtschaftlich zu integrieren und ihnen letztendlich auch Zugang zum offenen Handel und zum gemeinsamen Markt zu gewähren – doch bis zur Freizügigkeit der Arbeitnehmer wird es wahrscheinlich nicht gehen. All das wird bedeuten, dass die Europäische Union noch einmal umbenannt werden muss: Sie könnte etwa zur Europa- und Mittelmeerunion werden.

Was hat Europa den neu entstehenden nordafrikanischen Demokratien ohne einen derartigen Vorschlag, eine derartige langfristige Vision, schon zu bieten? Ein bisschen Unterstützung und ein paar Universitäten, das war es schon. Und doch haben wir, genau wie nach dem Fall der Berliner Mauer, als Motivation für die demokratische Reform etwas sehr wertvolles zu bieten, nämlich die Chance, sich uns anzuschließen.

Es hört sich schwierig an, sogar bevor man überhaupt anfängt, vom Islam zu sprechen. Vergessen wir jedoch nicht, dass diese Entwicklung in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht auch für Europa sinnvoll wäre. Der Mittelmeerraum bedeutet schließlich, in seiner lateinischen Abstammung „Mediterra“, die „Mitte der Erde“ und nicht „eine Art Abgrenzung im Süden“. Er war jahrhundertelang der Mittelpunkt unserer Welt. Er war immer ein Nachbar Europas.

Copyright La Stampa 2011

Aus dem Englischen von Patricia Lux-Martel

Aus Mitteleuropa

Ostpartnerschaft dem Mittelmeerraum geopfert

Die Krise der arabischen Länder zieht alle Aufmerksamkeit der Europäischen Union auf den Mittelmeerraum. Somit ist, wie Luboš Palata in der Lidové noviny meint, die Existenz der geplanten Ostpartnerschaft gefährdet. Ein Beweis hierfür: Ungarn, das derzeit den Vorsitz der EU führt, hat den Partnerschaftsgipfel, der am 27. Mai auf Schloss Gödöllö in der Nähe von Budapest stattfinden sollte, schlicht und einfach abgesagt. Für denselben Tag hat nämlich Nicolas Sarkozy eine Zusammenkunft des G8 angesetzt, dessen Vorsitz gerade Frankreich führt. Weiter „erklärt sich, laut gut informierter Quellen, diese Absage durch eine gewisse Verlegenheit in Bezug auf die Entwicklung der politischen Lage in den osteuropäischen Ländern“ (Aserbaidschan, Weißrussland, Armenien, Georgien und Moldau), deren Regimes noch als übermäßig autoritär oder als unzuverlässig betrachtet werden. „Die Aufmerksamkeit Westeuropas ist nun gänzlich auf Nordafrika fokalisiert“, erklärt Petr Mareš, tschechischer Botschafter für die Ostpartnerschaft, der tschechischen Tageszeitung. Er betont, die EU habe in dieser Region im Rahmen der Mittelmeerunion bedeutende finanzielle Ressourcen investiert, zu Lasten der Ostpartnerschaft. Die Partnerschaft könnte angesichts der Entwicklungen im Mittelmeerraum durchaus geopfert werden.

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